In diesem Traum wachte ich auf, weil ich eine Person neben meinem Bett bemerkte. Das Schlafzimmer sah aus wie in Wirklichkeit. Ich war in dem Bewusstsein, wach zu sein, obwohl ich noch schlief. Verrückte Sache! Jedenfalls stand meine verstorbene Jugendliebe Norbert in einem strahlend weißen Nachthemd neben meinem Bett. Mich überkam das Gefühl, das er sich von mir verabschieden wollte. Er lächelte mich mit seinen braunen Augen an und sagte mit einem dankbaren Gefühl: "Durch dich bin ich ins Kloster gekommen!" Dann durchfuhr mich ein Schreck, mir wurde im Traum bewusst, dass ich träumen musste. Das konnte unmöglich wahr sein! Prompt wurde ich wach... Ich schaltete das Licht an, aber leider war niemand mehr da.
Dieser Traum erschien völlig überraschend! Es lief mir eiskalt den Rücken hinunter, weil er dermaßen real gewirkt hatte. Dieses nächtliche Ereignis löste eine neue Sehnsucht nach Norbert aus. Das ganze Drama habe ich bis heute nicht richtig verarbeitet. Ich werfe mir vor, dass ich damals nicht den Versuch unternommen hatte, ihm meine Gefühle zu offenbaren. Vielleicht wäre dann alles ganz anders gekommen? Aber im Grunde weiß ich nicht, was besser gewesen wäre. Viele Entscheidungen, viele Weggabelungen, die man im Leben geht, sei es aus Naivität oder Dummheit, für die man sich entscheidet, sind nicht mehr rückgängig zu machen. Ist ein Weg erst einmal eingeschlagen, ist der Rückweg oft nicht mehr möglich.
In den folgenden Jahren vermied ich zusehends Aktivitäten, die das Risiko erhöhten, auf Männer zu stoßen, in die ich mich womöglich noch verliebte. Schwimmen und Sportvereine waren völlig ausgeschlossen. Es gab zwar Versuche aus diesem Käfig auszubrechen, aber diese scheiterten jedes Mal. Wenn ich einem Sportverein beitrat, folgte die übliche Konsequenz. Männer, sexuelle Gefühle, vielleicht Liebe und darauf Liebeskummer und Depressionen, erneute Suizidgedanken. Meine Frau wusste nichts davon. Zum Teil hatte sie Kenntnis von dem Problem, dass es mir schlecht ging, wenn attraktive Männer anwesend waren. Das hielt sie jedoch für eine harmlose Schwärmerei und ein Problem mit meinen Minderwertigkeitskomplexen. Sie wollte öfters zum Schwimmen fahren und verstand meine Ablehnung nicht. Und wenn ich mich doch mal durchringen konnte, dann stets widerwillig. Befand sich schließlich kein attraktiver Mann im Schwimmbad, war ich unglaublich erleichtert. Auch bei anderen Aktivitäten sowie beim Wechsel der Arbeitsstellen stand ich ständig unter Strom. In mir herrschte immer die Angst vor, attraktive Männer zu erblicken, die meine homosexuelle Neigung reizten, in die ich mich womöglich verliebte und die erneut Liebeskummer und Depressionen auslösten. Meine daraus resultierende Flucht in die Welt der Computerspiele entwickelte sich über die Jahre schleichend zu einer Sucht. Ich vermied letztendlich andere Aktivitäten nur noch, um diesem Laster nachgehen zu können. Denn es machte ja auch Spaß! In einem schleichenden Prozess nahm meine Flucht von Jahr zu Jahr stetig zu, bis ich nach einigen Jahren täglich zehn bis zwölf Stunden vor dem Computer verbrachte. Frau und Kind vernachlässigte ich immer mehr und ein normales Familienleben fand praktisch nicht mehr statt. Wollte meine Frau etwas unternehmen, war ich oft lustlos. Der Computer war das Einzige, was mich noch interessierte, ohne den ich scheinbar nicht leben konnte. Wenn ich mich überhaupt noch zu einer Unternehmung durchringen konnte, durfte es nie lange dauern, weil der PC lockte. Die Sucht hatte sich bereits derart weiter entwickelt, dass nicht mehr das ursächliche Problem Verursacher war, sondern die Traumwelt selbst zur Sucht wurde. Kaum zu glauben, aber meinem Job bin ich noch regelmäßig nachgegangen. Dass die Computerspielsucht mich derart extrem vereinnahmte, dass ich mich völlig gehen ließ und alles andere sang- und klanglos an mir vorbeizog, so schlimm war es dann nicht. Aber es war sehr grenzwertig und verursachte bereits eine Einschränkung der Lebensqualität, vor allem für die Familie. Vermutlich wäre es noch weiter eskaliert, wenn meine Frau nicht gewesen wäre, die mir trotz allem Verständnis, Liebe und Geborgenheit entgegenbrachte. Sie übernahm teilweise den Part, für den ich in unserer Familie zuständig gewesen wäre. Ich erbrachte nur 50 % Leistung, ging regelmäßig meiner Arbeit nach, um für den Lebensunterhalt zu sorgen. Aber die restlichen 50 %, für meine Familie da zu sein, waren nicht mehr drin. Meine Frau liebte mich so sehr, dass sie sich trotz der zusätzlichen Belastungen dennoch darüber freute, wenn ich nach der Arbeit heimkehrte.
Mit meinem fünfundzwanzigsten Lebensjahr hatte ich eine fixe Idee: Ich wollte mein Abitur nachholen, um anschließend Astrophysik zu studieren. Das hing mit meinem Faible für Science-Fiction, Star Trek und Star Wars zusammen. Weltraum, Sterne und Planeten interessierten mich zu dieser Zeit am meisten. Es überkam mich das unbefriedigende Gefühl, nicht alles erreicht zu haben, was ich mir wünschte. Meiner homosexuellen Neigung, meinem ständigen Liebeskummer gab ich die Schuld, dass ich in meiner Jugend keine Lust auf Schule entwickeln konnte. Zugegeben, wenn das nicht gewesen wäre, hätte ich einen anderen Schuldigen gefunden. Schuld schob ich öfter und gerne anderen zu, nur um nicht selbst die Schuld zu tragen. Aber jetzt wollte ich einiges aufholen, einen neuen Versuch starten. Prompt meldete ich mich im Abendgymnasium an, um fortan von Montag bis Freitag die Schulbank zu drücken. Das Lernen war hier etwas völlig anderes. Wenn man die Sache mit Spaß und Lust in Angriff nimmt, geht alles viel leichter. Meine Computerspielsucht war in dieser Zeit wie abgeschaltet. Dafür blieb auch keine Zeit übrig. Hausaufgaben und Klausuren beanspruchten fast die ganze Zeit, die nach der Arbeit zur Verfügung stand. Es war sogar keine Zeit mehr übrig, um über meinen Konflikt mit meiner verwirrten Neigung nachzudenken. Nur am Anfang, die ersten Tage, als ich die Schule betrat, stand ich unter Strom. Hier war wieder kurz diese Angst, es könnte ein attraktiver Mann in meiner Klasse sein, der mir Probleme bereitete. Diese Angst war glücklicherweise unbegründet und schnell vergessen. Und das erste Schuljahr verging wie im Flug …
Nach diesem Schuljahr wurde die Klasse durch neue Schüler vergrößert. Leider auch Männer und nicht nur Frauen, was mir persönlich lieber gewesen wäre. Das Glück wie am Anfang war mir diesmal leider nicht vergönnt. Es war ein Mann dabei, der meinen Konflikt neu entfachte, der mich sexuell reizte und das Kopfkino wieder in mir in Gang setzte. Zusätzlich brachte ein weiterer Mann das Fass zum Überlaufen. In meiner Klasse befand sich jetzt ein Mann, den ich zwar nicht anziehend fand, der jedoch seine sündige Natur auszuleben schien. Das war sozusagen für mich der erste visuell sichtbare homosexuelle Mann. Ich sah zufällig, wie er sich vor Unterrichtsbeginn zum Abschied von einem anderen Mann innig auf den Mund küssen ließ – vermutlich sein Lebensgefährte. Das ärgerte mich und kotzte mich regelrecht an, das rüttelte erheblich an meinem christlichen Weltbild. Immer wenn ich ihn in der Klasse sah, erinnerte er mich daran. Aber auch der anderen Mann, der mich sexuell reizte. Ich konnte und wollte mir das nicht mehr mit ansehen. Zusätzlich gab es auch noch Ärger in meinem Job, weil ich keine Überstunden mehr ableisten konnte wegen des vielen Lernstoffs. Das leicht gestörte Arbeitsverhältnis konnte ich jedoch ertragen. Aber die Situation in der Schule wurde immer unerträglicher. Das sorgte für einen Summierungseffekt vieler negativer Faktoren und führte letztendlich dazu, dass ich die fixe Idee "Abitur und Studium" aufgab. An dem Tag, als ich meine Schulbücher abgeben musste, überkam es mich plötzlich auf der Rückfahrt und ich musste Rotz und Wasser heulen. Ich war so unglaublich enttäuscht, weil ich es nicht geschafft hatte, meinen Traum zu verwirklichen. Jedes Mal, wenn ich in meinem Leben Männern begegnete, die meine verwirrte Neigung reizten, trat ich die Flucht an. Das veränderte und beeinflusste mein Leben nachhaltig. Im Grunde war ich ein Spielball in einem Flipperspiel. Stets wurde ich in eine andere Richtung gelenkt. Immer auf der Flucht vor der Sünde. So plötzlich, wie die Computerspielsucht mit der Schule beendet war, begann sie wieder. Es war wieder viel Zeit verfügbar! Zeit, die ich in den folgenden Jahren erneut am PC in meiner Traumwelt verbrachte...
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