„Seid fruchtbar und mehret euch.“
So, wie es die Bibel vorsieht. Letztendlich ist es darauf hinausgelaufen. Auch darauf, dass ich meine Angst vor der Sünde gegen Gott und meine Scham nicht überwinden konnte. Ich glaubte, wenn ich Gottes Willen erfülle, eine Frau zu heiraten, wird sich das Problem schon von alleine lösen. Ich wollte unbedingt normal, „hetero“ sein, wie alle anderen Menschen um mich herum. Viele Probleme und Konflikte führten dazu, dass ich mich auf diese Ehe einließ.
Seitens meiner Frau führten ihre eigenen Probleme zu dieser Partnerschaft. Ihre zehnjährige Beziehung war erst seit Kurzem beendet. Ihr Ex schlug sie sehr oft und behandelte sie viele Jahre lieblos, wie eine Gefangene. Das löste massive Angstzustände sowie immer weiter zunehmendes Übergewicht bei ihr aus. Aufgrund der erlebten Gewalt war sie am Ende der Beziehung wie gelähmt. Sie musste sogar in einer Kur wegen ihres Martyriums behandelt werden. Als ich davon erfuhr, tat mir das unglaublich leid und wollte sie behüten vor dem bösen Mann, denn der ließ immer noch nicht locker, wollte sie zurück und bedrängte sie ständig. Wir rückten in dieser Situation beide näher zusammen, weil wir beide Liebe, Geborgenheit und Zuneigung brauchten. Innerhalb kurzer Zeit bezogen wir relativ schnell eine gemeinsame Wohnung und darauf wurde auch schon die Heirat geplant. Heute ist mir bewusst, unser Verhalten war eher eine Art Flucht als eine wohlüberlegte Handlung. Vor allem von mir, denn noch immer litt ich unter Depressionen und Suizidgedanken aufgrund meiner verwirrten sexuellen Neigung, dem Liebeskummer zu einem Mann, der nicht enden wollte. Noch immer hielt ich die Schlaftabletten versteckt, mit denen ich meinen Suizid durchführen wollte, wenn es unerträglich werden würde. Ich wollte diese für mich befreiende Lösung meines großen Problems nicht einfach aufgeben.
Als meine zukünftige Frau die Tabletten entdeckte, setzte sie alles in Bewegung, um mir zu helfen. Sie war der erste Mensch in meinem Leben, der sich wirklich für mich interessierte und sich selbstlos einsetzte, ohne eine Gegenleistung zu erwarten. Sie überzeugte mich davon, dass ich die Tabletten dem bestohlenen Arzt zurückgeben sollte. Ohne das ich davon wusste, hatte sie schon zuvor mit ihm ein längeres Gespräch geführt, wie man mir am besten helfen könne. Nach der Rückgabe der Tabletten überzeugte mich mein Hausarzt, ohne dass er von den Details meiner Probleme wusste, dass eine Therapie der beste Weg sei, meine Suizidgedanken loszuwerden. Aufgrund der Dringlichkeit war alles relativ schnell beantragt und es standen die ersten Therapiestunden im psychologischen Beratungszentrum an. Bei den ersten Terminen mit einer Psychologin erzählte ich ihr von der geplanten Hochzeit und von meinen Depressionen, meinen Suizidgedanken. Ich offenbarte jedoch nichts von den Gründen, von meiner verwirrten Sexualität, dem Liebeskummer zu einem Mann und meinen Schuldgefühlen aufgrund meines Glaubens. Ich war sehr wortkarg und wenig freizügig mit weitergehenden Informationen. Die vergangenen Erfahrungen hatten mich gelehrt, dass mir nicht mehr zu helfen ist, dass eine Offenbarung meiner Gefühle mir alles andere als Hilfe einbrachte, und meine Lippen blieben versiegelt. Auch meine Scham war ganz erheblich daran beteiligt! Nach den ersten Therapiestunden verzweifelte die Psychologin langsam an mir. Sie sagte am Ende der letzten Sitzung, dann solle ich mich halt umbringen, es warten genug auf meinen Therapieplatz. Aber heiraten, das darf ich auf keinen Fall. Meine Freundin und ich, jeder von uns beiden, solle in eine andere Richtung ziehen. Am besten wäre es, wenn der eine nach Hamburg und der andere nach München ziehe. Zwei Lahme können sich nicht stützen, meinte sie. Das machte mich total unsicher, ob meine Entscheidung mit der Heirat richtig war. Als meine zukünftige Frau von der Aussage der Psychologin erfuhr, das ich aufgrund ihrer Warnung die Heirat verschieben wollte, war sie wie vor den Kopf gestoßen und völlig aufgelöst. Auch, weil für die anstehende Hochzeit bereits alles organisiert und bestellt war. Sie verstand nicht, wie meine Psychologin so etwas sagen, mich verunsichern konnte. Nachdem meine Frau sich wieder beruhigt hatte, sagte sie, ich solle mich frei und ohne Druck entscheiden, ob ich sie heiraten möchte. Aber ich wusste nicht mehr, was richtig oder falsch war. Alles drehte sich in meinem Kopf und ich konnte keinen klaren Gedanken fassen. Ich wusste nur, dass sie der einzige Mensch auf der Welt war, der mich liebte, der mir Geborgenheit und Liebe gab. Ein Mensch, der mir sehr viel bedeutet. Außer ihr hatte ich sonst niemanden! Also blieb es dabei, wie es geplant war. Ich sagte, dass ich sie heiraten wolle, Punkt.
Danach folgte – wie in diesen Jahren häufiger – häusliche Eskalationen. Anlass gaben meine launische Art, mein kindliches Verhalten und meine Depressionen, ursächlich bedingt durch den Liebeskummer, meiner verwirrten sexuellen Ausrichtung und der daraus entstandenen Unzufriedenheit. Wir gerieten in den ersten Jahren aufgrund meiner Probleme des Öfteren aneinander. Denn der Liebeskummer zu diesem Mann hielt noch ca. 3 Jahre an, ohne dass für mich ein Ende in Sicht war. Ich war nervlich oft so stark angespannt, dass ich schnell in Wut geriet, die sich plötzlich auch gegen mich selbst richten konnte. Aber das sagte ich meiner Frau nicht, sie wusste nichts von den Gründen. Sie wusste zwar von einer Art Liebeskummer zu diesem Mann, den schob sie jedoch auf eine harmlose Schwärmerei, auf eine Art Bewunderung. Bei diesem Streit, ich weiß nicht mal mehr, worum es ging, folgte der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Ich reagierte in meiner Wut mit einer Kurzschlussreaktion, einem erneuten Suizidversuch mit einer giftigen Pflanze. Die Schlaftabletten hatte ich leider nicht mehr. Von der Pflanze las ich zuvor in einem Bericht, dass sie sehr giftig und tödlich ist. Ich entdeckte, dass diese Zimmerpflanze auch bei uns zu finden war. Seltsamerweise konnte ich mir solche Dinge gut merken. Nach der Einnahme musste ich sofort ins Krankenhaus. Ich weiß nicht, was ich mir dabei gedacht hatte. Vermutlich passierte es aus meiner Verzweiflung und/oder Hilflosigkeit heraus oder ich stand unterbewusst unter Druck angesichts der geplanten Hochzeit. Die Psychologin hatte mich ebenfalls zum Suizid ermuntert. Im Krankenhaus angekommen, wurde ich nicht gerade mit Samthandschuhen angefasst. Ich wurde auf einer Liege fixiert und mir wurde der Magen ausgepumpt. Sehr angenehm war das nicht ... Nach einer Woche wurde ich ohne weitere Auflagen aus dem Krankenhaus entlassen.
Unweigerlich folgte in den darauf folgenden Monaten die standesamtliche und die kirchliche Heirat, die Schwangerschaft meiner Frau und darauf die Geburt meines Sohnes. Zu unserer standesamtlichen Hochzeit ist weder meine Mutter noch mein Stiefvater erschienen. Und das, obwohl sie eingeladen waren, genau wussten, wann wir heiraten. Es waren nur ganze sechs Personen anwesend, das Ehepaar, zwei Trauzeugen, Schwiegermutter und eine Freundin meiner Frau. Von meiner Seite war niemand gekommen! Das Gefühl was mir immer wieder vermittelt wurde, war Ablehnung. Von meinem Stiefvater habe ich nichts anderes erwartet, aber von meiner Mutter konnte ich das nur schwer verarbeiten. Alle diese Veränderungen fanden innerhalb eines Jahres statt, um nicht von Umzügen und wechsel mehrerer Arbeitsstellen und vieler anderer Probleme und Ereignisse und einem erneuten Suizidversuch zu reden. Das Jahr war eine emotionale Achterbahn! Ich war weder psychisch stabil genug, noch in der Lage eine Beziehung einzugehen, geschweige denn selber "Vater" zu sein.
In den weiteren Ehejahren konnte ich meine verwirrte Sexualität nicht leicht mit den alltäglichen Dingen im Leben in Einklang bringen. Ich lebte oft nur vor mich hin, flüchtete immer öfter in meine Traumwelt, in die Computerspielwelt oder die Welt der Fantasyrollenspiele. Meine Frau hatte in dieser Zeit zwei Kinder statt eines! Die nervliche Anspannung auf beiden Seiten und mein eigenes falsches Verhalten in den ersten Ehejahren war Anlass für noch mehr Streitigkeiten und einen weiteren Suizidversuch im Alkoholrausch. Daraufhin begab ich mich in eine weitere Therapie, die ebenfalls nichts bewirkte, weil ich dem Psychologen (ein Mann) nichts von meiner verwirrten Sexualität offenbaren wollte. Ich zweifelte damals nie daran, dass das Unterdrücken dieser fremdartigen homosexuellen Gefühle falsch war. Dass ich damit meine Frau mit meinen eigentlichen sexuellen Gefühle betreffend anlog, nahm ich nie wahr. Es folgten viele Jahre des Aushaltens, Lügens und Verleugnens. Viele Jahre kämpfen gegen mich selbst, viele Jahre NICHT leben. Auch nachdem der Liebeskummer nach vielen Jahren endlich vorbei war, fand ich keine Ruhe. Der Sommer, der Herbst und die Vorweihnachtszeit waren immer eine Tortur für mich. In dieser Zeit war es besonders schwer, das sexuelle Verlangen zu Männern zu unterdrücken. Ständig diese Parfümwerbung mit den erotischen, halb nackten Männern. Wenn ich eine Werbung sah, fing ich schizophrenerweise an, danach zu suchen, um sie mir erneut anzusehen. Obwohl ich wusste, dass es mir danach auf Deutsch gesagt „Scheiße“ ging. Ich lag ständig im Zwiespalt mit mir. Und im Sommer lief alle Welt, insbesondere Männer, halb nackt durch die Gegend. Ich verspürte oft keine Lust mehr, vor die Tür zu gehen. Mein Glaubensgefängnis beeinflusste meine Aktivitäten immer mehr, sodass ich mich immer mehr vor meinem PC verschanzte. Insbesondere ein Traum, den ich mit einundzwanzig Jahren, drei Jahre nach Norberts Tod hatte, bestätigte mein Handeln.
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