Der „Marstall“, ehemaliger großherzoglicher Pferdestall am Schloßplatz, brennt eines Abends völlig aus. EA kommt mit der Nachricht ins Jungenschlafzimmer auf dem Dachboden, in dem zu der Zeit Ludwig, EA und ich schlafen. Da EA gleich wieder verschwindet, Ludwig sowieso erst viel später schlafen geht, bin ich allein und bekomme furchtbare Angst und glaube, den Feuerschein aus dem Fenster sehen zu können. Ich verkrieche mich unter die Bettdecke. Später erkenne ich, daß es nicht der Feuerschein gewesen sein kann, den ich zu sehen glaubte, denn in der Richtung zum Marstall stehen mehrere hohe Nachbarhäuser. Es war wohl der Halo des vom Giebel eines dieser Häuser verdeckten Mondes gewesen, den ich für den Schein des Feuers hielt. Etwas später spiele ich mit anderen Kindern auf dem Schloßplatz, der noch auf einer Seite von einer Mauer der Ruine des Marstalls begrenzt ist. Plötzlich bricht ein riesiges Stück aus der Oberkante der Mauer und fällt mit dumpfem Krach zu Boden. Die Stelle vor der Mauerruine war noch nicht gesichert. Zum Glück wird keines von uns Kindern getroffen.
Mitte der zwanziger Jahre schaffen sich die Eltern ein Grammophon an. An einige alte Schallplatten kann ich mich noch gut erinnern:
Ich hab zu Haus ein Gra, ein Gra, ein Grammofon,
Das macht so schön Trara, Trara, Na Sie wissen schon.
Man steckt die Nadel rein, gleich fängt es an zu schrein.
Die größte Sensation ja das ist mein Grammophon ....
Oder
Die schöne Adrienne, tschingtaratatatatataradio,
Hat eine Hochantenne, tschingtaratatatatataradio,
Aus aller Herren Länder, tschingtaratatatatataradio,
Empfängt sie hundert Sender, trara trara traradio ...
Ich habe anfangs vor dem Kasten eine gewisse Scheu, weil auf meine Frage, wie denn die Musik in den Apparat hineinkomme, Ilse oder Thea mir erzählt, daß darin ein kleiner Mann säße, der die Musik mache. Kurz darauf träumt mir nachts, ich stecke eine Hand in den Trichter und kann sie nicht wieder herausziehen. Sie wird festgehalten. Es ist ein Albtraum. Ich wache schreiend auf, die Eltern kommen sofort und beruhigen mich. Vater sagt mir, daß die Geschichte mit dem kleinen Mann im Grammophon gar nicht wahr ist und die Schwester mich nur angeführt hätte. Jahre später – die Eltern haben sich inzwischen ein Radiogerät angeschafft und das Interesse an Grammophonmusik verloren – beschäftige ich mich näher mit dem Apparat und den Schallplatten, deren Tonrillen ich mit der Lupe untersuche, und kann mir dann ungefähr vorstellen, wie das Abspielen funktioniert. Folgerichtig schließe ich, daß man das Grammophon auch als Schallaufnahmegerät verwenden können müßte: Da am Anfang und am Ende der Schallplatten mehrere Rillen frei sind, schreie ich beim Ablauf dieser noch nicht bzw. nicht mehr bespielten Rillen in den Trichter hinein, und siehe da: mein Geschrei hat sich verewigt. Die Wiedergabe ist zwar bedeutend leiser als die einer Aufnahme der Schallplatte, aber doch deutlich zu hören. Nur meine Schwester Ilse zeigt eine gewisse Bewunderung dafür, daß ich überhaupt die Idee habe.
Unser Elternhaus, Langestraße 31 in Oldenburg (Oldb) , in dem sich heute ein Cafe befindet, ist für EA und für mich ein Haus, in dem es immer wieder etwas zu entdecken gibt. Der lange Keller, der unter dem überdachten Hof in der hinteren Hälfte des Hauses über eine Kellertreppe erreicht werden kann, wo in seinem vorderen Teil in einem separaten Raum Schränke zum Lagern von Käselaiben stehen, die Türen der Schränke mit Drahtnetzen versehen zum Schutze vor Mäusen, dieser Raum ist eigentlich für uns Jungen tabu; der Kellergang daneben führt an dem Käseraum vorbei in einen mittleren Teil, in dem Brennmaterial – Torf, Kohlen und Briketts – gelagert wird, das die Arbeiter der Brennstoffhandlung von der Häusing aus durch das Kellerfenster in diesen Teil des Kellers schütten. Weiter führt der Gang an dem Brennstoff vorbei fast bis unter die Langestraße, wo sich am Ende rechter Hand ein gekachelter Raum befindet, in dem noch viel Material von der Vorbesitzerin des Geschäftes für Feinkost, Luise Steinsiek, lagert und das unser besonderes Interesse weckt. Pakete von Stearinkerzen, die Frau Steinsiek früher wohl auch zu verkaufen und vielleicht auch im Ersten Weltkrieg gehortet hatte, viele Rollen mit Bindfaden, Rollen mit Packpapier, Schachteln und Kästen verschiedener Größen und vieles andere. EA und ich zünden erst einmal ein paar Kerzen an, wenn wir den Raum aufsuchen, und wühlen dann in den Schätzen. Von der Deckenwölbung her hört man das Getrippel der Fußgänger auf der Straße über uns und auch hin und wieder das Poltern eines fahrenden Autos oder eines Pferdefuhrwerks, von denen es in dieser Zeit noch viele gibt, jedoch noch nicht viele Kraftwagen. Manchmal raschelt es in den Dingen, die an den Wänden gestapelt sind, eine Maus, die sich in ihrer Ruhe durch uns gestört fühlt. Allein hätte ich mich aber nicht in den dunklen Keller getraut. EA ist immer sehr mutig und hat vor nichts Angst. Er steigt auch ohne mich in den Keller bis hinten in den Abstellraum und holt sich etwas zum Basteln.
Das Haus Oldenburg, Langestraße 31, bevor es meine Eltern 1921 zusammen mit dem Feinkostgeschäft erwarben
Manchmal zieht EA mich wegen meiner Furchtsamkeit auf und foppt mich mit dem „Busemann“, an dessen Existenz ich zwar nicht richtig glaube, aber ich will das gar nicht erst herausfordern. „Guck unters Bett nach, vielleicht ist da der Busemann“, versucht er mich manchmal zu ängstigen, bevor wir schlafen gehen. In meiner Fibel für das zweite Grundschuljahr gibt es ein buntes Bild: Ein tanzender Kobold mit einem kleinen Sack auf dem Rücken, darunter der Vers
Es tanzt ein Biba Butzemann in unserm Haus herum dideldum
Es tanzt ein Biba Butzemann in unserm Haus herum
Er rüttelt sich und schüttelt sich er wirft sein Ränzlein über sich
Es tanzt ein Biba Butzemann in unserm Haus herum.
Im zweiten Grundschuljahr lernen wir sogar eine Melodie zu diesem Reim. Ich habe mir diese Seite in unserer Lesefibel damals mit meinen sieben Jahren immer mit einem gewissen Grauen angesehen.
Ende der zwanziger Jahre bekommen wir Kinder ein „Heimkino“ von Bekannten unserer Eltern geschenkt. Eine „Laterna Magica“ besitzen wir bereits; sie stammt noch aus dem Elternhaus unserer Mutter und ist sicher schon fünfzig Jahre alt. Das „Heimkino“ ist ein Filmprojektor mit Handbedienung, d.h. mit einer Kurbel wird der Film durch die Optik gezogen und durch die notwendige Filmtransportmechanik bewegt. Einige kleine Filme sind vorhanden, vielleicht mit je 10 Minuten Spieldauer. EA ist der Vorführer, Ludwig interessiert der Kinderkram nicht, er geht schon ins richtige Kino. Die erste Vorführung ist eine Enttäuschung. Man sieht zwar irgendetwas Bewegliches grau in grau, es soll sich um Seelöwen irgendwo im Stillen Ozean handeln, aber alles ist vollkommen unscharf. Niemand weiß, woran das liegt, weder die Eltern noch die größeren Schwestern und auch EA selbst nicht. Der Apparat wird wieder in seine Kiste gepackt und bleibt dort für eine Weile. Wochen später holen wir ihn uns wieder hervor und versuchen es noch einmal, mit demselben Erfolg. Obwohl EA eifersüchtig darauf achtet, daß ich den Apparat nicht berühre, drehe ich schließlich doch vorn am Objektiv, und plötzlich wird das Bild scharf und alle Details sind genau zu erkennen. Ich bin natürlich ungeheuer stolz auf meine Entdeckung und darf von da an den Projektor mit dem gleichen Recht wie EA bedienen. Das Interesse daran erlahmt aber sehr bald, da die kurzen Filme, wovon wir nur wenige haben, ihren Reiz verlieren und Nachschub anscheinend nicht zu bekommen ist. Ich nehme das Gerät später auseinander, weil ich unbedingt dahinter kommen will, wie es funktioniert. Das mache ich auch mit anderen Gegenständen der Bewegungsmechanik wie Spielzeugautos oder -lokomotiven, die wir zu Weihnachten bekommen. Bei mir ist alles schnell auseinander genommen. Erst als ich einen TRIX-Baukasten zum Weihnachtsfest erhalte, werde ich auch konstruktiv im Zusammenbasteln von mechanischem Spielzeug, nicht nur nach Vorlagen, sondern auch nach eigenen Ideen.
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