An demonstrative Umzüge von vaterländischen Verbänden, Parteien, Kommunisten und anderen „linken“ Organisationen, hauptsächlich Gewerkschaften, erinnere ich mich; die Nazis sind erst in den späten zwanziger Jahren in Oldenburg dabei. Die Atmosphäre hat häufig etwas Revolutionäres und auch Kriegerisches an sich. Vater besitzt einen Gummiknüppel im Geschäft, der unter dem Tresen versteckt ist, weil er Überfälle von „vaterlandslosem Gesindel“ befürchtet, womit er vor allem Kommunisten meint. Es passiert jedoch nie etwas. Vater ist Mitglied des „Stahlhelm, Bund der Frontsoldaten“, einer nationalistischen und militaristischen Vereinigung ehemaliger Angehöriger der kaiserlichen Armee, die im Ersten Weltkrieg in einer der kämpfenden Einheiten Dienst getan hatten. Damit ist er aber auch ein erklärter Gegner aller demokratischen und sozialistischen Parteien und Ideen. Kommunisten sind für ihn fast Kriminelle und „vaterlandsloses Gesindel“ deswegen, weil für sie die Sowjetunion das „Vaterland der Werktätigen“ ist. Seine Abneigung gegen Kommunisten hindert ihn jedoch nicht daran, einmal in der Woche einem Mitglied der KPD deren Parteizeitung „Die Rote Fahne“ abzukaufen und mit ihm zu diskutieren.
Mit fünf Jahren komme ich in den Kindergarten, meine Erinnerungen daran sind nicht sehr gut. Das gemeinsame Frühstück mit warmer Milch, die ich nicht mag, das Pipimachen unter Aufsicht. Eine Kindergärtnerin hält einmal mein Glied, wohl damit ich nicht auf den Rand der Klobrille pinkel, und fragt mich, warum mein Urin so hell sei, ob ich viel Wasser getrunken habe. Sie hält Wassertrinken wohl für ungesund. Ich bin sicher kein braver Junge im Kindergarten und werde manchmal mit Eckenstehen und Eintragungen ins „Schwarze Buch“ bestraft, was man mir ausdrücklich unter die Nase hält, obwohl ich ja noch nicht lesen kann. Als ich mich schließlich zuhause weiger, weiter in den Kindergarten zu gehen, ändert sich die Lage für mich spontan: Ich werde plötzlich zu einem der Lieblinge der Kindergärtnerinnen und auch ins „Goldene Buch“ eingetragen, was man mir natürlich auch zeigt. Vater hat wohl ein Machtwort mit der Leiterin gesprochen. *)Ein halbes Jahr später, als ich schon die erste Klasse der Grundschule besuche, zieht es mich noch ein paar mal an den Ort meiner kindlichen Leiden und Freuden zurück, besuchsweise. Die Vergangenheit wird anscheinend auch im kindlichen Gemüt schon als etwas zwar Überwundenes, unbewußt aber auch als etwa unwiederbringlich Verlorenes gefühlt. Im Kindergarten wird mir auch zum ersten Mal der körperliche Unterschied zwischen Jungen und Mädchen bewußt, obwohl man diesen Unterschied streng vor unseren Blicken zu verbergen sucht. Jedenfalls wird hier meine Neugier und auch ein Verlangen nach Berührung („Anfassen“) geweckt.
Ein Kinderlied , gelernt im Fröbelschen Kindergarten in Oldenburg im Jahr 1927:
Wer will unter die Soldaten
Der muß haben ein Gewehr
Der muß haben ein Gewehr
Das muß er mit Pulver laden
Und mit einer Kugel schwer.
*)Bei der viele Jahre späteren Lektüre des Romans „Feldmünster“ von Franz Graf Zedtwitz dachte ich an eine gewisse Parallelität der Erlebnisse des Jesuitenzöglings Robert Neitperg zu den meinen.
Einmal spiele ich mit einigen anderen Jungen am Wall, der hinter dem Spazierweg abschüssig zum Stadtgraben, der Haaren, verläuft, sodaß wir bei Hochwasser direkt ans Wasser gelangen können. Wir finden an der Böschung eine Art weißen, fast durchsichtigen Gummischlauch, der nur eine Öffnung mit einem steifen Ring umzu hat, so daß wir den „Schlauch“ mit Wasser und kleinen Fischen, Stichlingen, die wir in der Haaren fangen, füllen können. Mit unserem Fang gehen wir durch die Langestraße bis zu unserm Haus. Unterwegs sprechen uns einige Erwachsene an, etwa: „Da habt ihr aber einen tollen Fang gemacht“, und lachen dabei. In unserem Haus angekommen, sieht mich unser Vater entsetzt an, nimmt mir den tollen Fang weg, läuft zur Toilette und schüttet das Wasser mit den Fischen und dem „Schlauch“ hinein, ohne sich noch weiter um mich und meine Spielgefährten zu kümmern. Unsere Mutter ist ahnungslos und will von Vater wissen, was das denn sei. Vater erklärt ihr etwas, was ich nicht verstehe. Später sagt mir ein größerer Junge, der das alles mitgekriegt hat, der „Schlauch“ sei ein „Pidelüberzieher“ gewesen. Wozu der gebraucht würde und warum er dort am Ufer der Haaren lag, kann uns der Schlauberger trotz vieler Worte auch nicht verständlich erklären. Später zeigt mir mein Freund Kurt eine leere Packung „Fromms Akt“ mit einer Beschreibung der Anwendung, die irgend etwas über die Verhütung von Krankheiten enthält. Daraus können wir uns überhaupt keinen Reim machen. Wie sollen wir auch, solange wir nicht wissen und nicht wissen dürfen, was Mann und Frau manchmal miteinander treiben, wenn sie allein sind.
Obwohl seit Sigmund Freuds Erkenntnissen frühkindliche Sexualität kein Tabuthema mehr hätte sein sollen, war sie das dennoch in den meisten bürgerlichen und noch mehr kleinbürgerlichen Familien. So werden auch wir erzogen, vor allem wir Jungen in der Familie. In unserem Bekanntenkreis ist es nicht anders. Wenn die Eltern Selbsbefriedigung bei uns feststellen oder auch nur ahnen, gibt es Drohungen mit dem Doktor und mit „abschneiden“. In klassenbewußten Arbeiterfamilien, die den Sozialdemokraten oder Kommunisten oder ihnen nahestehenden Vereinen und Gruppierungen angehören, gibt es weniger Prüderie. Jugendliche beiderlei Geschlechts gehen zusammen auf Fahrt, praktizieren auch Freikörperkultur und bisweilen auch „freie Liebe“, ohne sich direkt auf Sigmund Freud und seine Schüler zu berufen. Dies ist aber nicht allgemein bekannt und in den bürgerlichen und nationalen Gesellschaften bis hin zu den Nationalsozialisten streng verpönt und wird als unsittlich und jugendverderbend denunziert, woran die beiden Kirchen großen Anteil haben.
Meine Geschwister und ich. Linkes Bild: ich, Ernst August und Karl Wilhelm.
Rechtes Bild mit meinen älteren Schwestern Dorothea (links) und Ilse.
(Die Fotos wurden im Sommer 1928 auf dem Hof unserer Onkel Linnemann aufgenommen)
Wir werden von unserer Mutter angehalten, beim Zubettgehen ein Kindergebet herzusagen: „Lieber Gott, mach mich fromm, daß ich in den Himmel komm“ oder „Ich bin klein, mein Herz ist rein, soll niemand drin wohnen als Jesus allein“. Ich kann nicht behaupten, daß diese Gebete mir zu Herzen gehen. Wenn Mutter uns zu Bett bringt, beten wir pflichtschuldigst; bei den älteren Schwestern oder den Dienstmädchen albern wir auch schon dabei. Später, als wir zur Schule gehen, schläft das Beten ein.
Unser Vater war nicht zum Beten, auch nicht zum Kirchgang aufgelegt. Nur an militärischen „Feldgottesdiensten“ während der kurzen Zeit der „Republik von Weimar“ nahm er Teil. Sie wurden vor Hitlers Machtübernahme häufig vom „Stahlhelm – Bund der Frontsoldaten“, in dem Vater Mitglied war, und von anderen „Vaterländischen“ Verbänden abgehalten. Mutter hatte zumindest bis zum Kriegsausbruch 1939 kaum irgendwelche Zweifel an christlicher Religion gezeigt. Später fing sie an, darüber nachzudenken und auch ihre Zweifel mitzuteilen. Wenn ich während meiner Seefahrtzeit auf Urlaub war, erzählte sie mir hiervon, vor allem wohl, weil sie wußte, daß ich mich für indische und fernöstliche Religionen und deren Philosophien, vor allem aber für den Buddhismus, interessierte. Hierzu hatte sie gewiß auch den Grundstein gelegt: Zum Weihnachtsfest 1947 hatte sie mir aus dem Nachlaß von Bruder Walter, der noch in den letzten Kriegstagen gefallen war, das Buch „Brahma und Buddha“ des bekannten Indologen Helmuth v. Glasenapp geschenkt.
Nach dem Tode unseres Vaters Weihnachten 1959 hatte Mutter häufig Besuch des Gemeindepastors, mit dem sie über ihre Zweifel am christlichen Glauben sprach und sich mit ihm darüber unterhielt. Einmal war ich während eines Urlaubs mit dabei, und ich merkte, daß auch der Pastor seine Zweifel hatte. Meinen Einlassungen aus buddhistischer Sicht entgegnete er nichts, fand sie im Gegenteil bedenkenswert. Er hatte sich wohl auch in seiner Studienzeit unter Anderem damit beschäftigen müssen . Nach dem Besuch des Pastors meinte Mutter, daß es bei manchen Gläubigen wohl viel Aberglaube gäbe, zum Beispiel den an einen Teufel und einer brennenden Hölle. Dazu erzählte sie mir folgende Geschichte: In den Jahren nach 1850 wurde die Oldenburger Eisenbahn um eine weitere Strecke von Bad Zwischenahn nach Apen im Ammerland erweitert. Die Einweihung dieser neuen Strecke sollte an einem Sonntagvormittag mit einer großen Feier und der Jungfernfahrt von Oldenburg über Zwischenahn und Augustfehn bis zur Endstation Apen erfolgen. Der Schmiedemeister Schliep in Apen, ein Onkel meiner Mutter, will sich dieses Ereignis nicht entgehen lassen und nimmt seine Familie in einem Einspänner mit nach Augustfehn, um zu erleben, wenn die Bahn hier vorbeikommt und eine Pause einlegt. Mit dabei ist auch seine alte unverheiratete Tante, die noch sehr fromm und gottesfürchtig ist. Nachdem die Familie mit vielen anderen bäuerlichen Zuschauern eine Weile an der Bahnstrecke gewartet haben, kommt schießlich die Lokomotive mit lautem Puffen, Fauchen und viel schwarzem Qualm und Feuer aus dem Schornstein angezockelt. Die alte Tante reißt die Augen auf, fällt vor Schreck auf ihre Knie und mit hoch erhobenen Händen, den Blick zum Himmel gewendet, jammert sie lautstark: „Min leewe leewe God, wat hebb ik verbroken, dat ik dat noch belewen mutt!“
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