Der Nazigruß (in Verbindung mit dem möglichst laut und vernehmlich gesprochenen „Heil Hitler“) wurde ab 1933 der „Deutsche Gruß“ genannt, obwohl er nur eine Nachahmung des antiken römischen „Fascio“-grußes war und schon, bevor die Nazis diesen Gruß in ihrer „Bewegung“ einführten, in Italien bei den Mussolini-Faschisten üblich war. Hitlers höhere Vasallen und solche, die sich dafür hielten, im Volksmund „die kleinen Hitlers“ genannt, machten dessen lockere Art gern nach, in Gegenwart weniger Leute wie ihr Führer mit nur angewinkelt erhobenem Arm zu grüßen. Auf den häufigen, oft stundenlangen Vorbeimärschen sah man Hitler, der hierbei eine große Ausdauer zeigte, immer mit dem vollen Nazigruß, wobei er meistens beim Erheben und auch Senken den rechten Arm mit einer besonderen, wohl eingeübten, Art schwenkte.
Nach der Einführung des „deutschen Grußes“ wird darüber natürlich auch gewitzelt. Meine Schwester Ilse, die nach der „Machtübernahme“ keine große Begeisterung für den Nationalsozialismus zeigt und sich gern an der Verspottung NS-parteiamtlicher Verfügungen beteiligt, kommt einmal kurz nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler mit „Heil Hitler und guten Tag für die Andersgläubigen“ nach Hause.
Das zweite Mal erlebe ich Hitler im Frühherbst 1932 bei einer NS-Kundgebung auf dem Pferdemarkt, auf der Seite, wo das Polizeihaus und die Polizeikaserne stehen. Er kommt wie gewöhnlich später, nachdem die Kundgebung schon mit einer reißerischen Rede des NSDAP-Gauleiters und Ministerpräsidenten des Landes Oldenburg, Karl Röver *)angefangen hat, mit seinem großen Mercedes unter brausendem Heilrufen der Menge, was zur Inszenierung solcher Kundgebungen mit Hitler dazu gehört. Auf dem gegenüberliegenden Platz des Pferdemarktes haben die Kommunisten eine Gegendemonstration arrangiert, die von der Menge aber wenig beachtet wird und sich dann schnell tot läuft. Einige unentwegte Kommunisten schütten Hitlers Mercedes bei der Ankunft Nägel und Splitter vor die Reifen, mit welchem Erfolg, kann ich nicht feststellen.
Am 30.1.1933 wird Adolf Hitler, der Führer der NSDAP (Nationalsozialistische Deutsche Arbeiter Partei) vom Reichspräsidenten von Hindenburg zum Reichskanzler ernannt, nachdem in den letzten Wahlen zum deutschen Reichstag die „nationalen“ (d.h. rechts gerichteten b.z.w. erzkonservativen) Parteien die Mehrheit erreicht haben. Dabei muß man berücksichtigen, daß Demokraten, Zentrum und SPD auf keinen Fall mit den Kommunisten koaliert hätten, eine regierungsfähige demokratische Regierung unter Beteiligung der Kommunisten also nicht zustande gekommen wäre. Allerdings ist auch kaum anzunehmen, daß Kommunisten sich an einer demokratischen Mitte-Links-Regierung beteiligen würden, ist es doch ihr Ziel, dem „System“ einen Fußtritt zum Untergang zu geben. „System“ ist eine Bezeichnung der Kommunisten für die „Herrschaft des Bürgertums“, also der rechtsstaatlichen Demokratie. Der „greise Feldmarschall“ sieht angeblich keine anderen Möglichkeiten mehr nach der Reichsverfassung, als Hitler, den Führer der rechtsradikalen Partei und stärksten Fraktion im Reichstag mit der Bildung einer neuen Regierung zu betrauen. Hierzu wird er von seinen Ratgebern, vor allem seinem Sohn, Oberstleutnant der Reichswehr Oskar von Hindenburg, dem vormaligen Reichskanzler von Papen und dem Chef des Reichspräsidialamtes von Meissner – alle drei zusammen von Kritikern auch die „Camarilla“ genannt – gedrängt. Er sympathisiert nicht mit Hitler und hatte vorher immer wieder versucht, den „böhmischen Gefreiten“, wie er ihn nennt, womit er auf Hitlers österreichische Herkunft und auf seinen Dienstgrad während des Weltkrieges anspielt, von der Regierung fernzuhalten, ihm sogar gedroht, er werde die Reichswehr auf Hitlers SA schießen lassen, falls Hitler einen Putschversuch machen wolle. Als „Aufpasser“ ernennt Hindenburg den vorletzten Reichskanzler Franz von Papen zum stellvertretenden Reichskanzler, der sich aber in der Folgezeit als völlig unfähig in dieser Rolle erweist und selbst zum betrogenen Betrüger wird.
An dem Tag kommt Bruder Ludwig kurz vor Mittag nach Hause und ruft: „Hitler ist Reichskanzler geworden!“ Mutter sagt, und der Ton ihrer Stimme klingt schicksalsergeben: „Das mußte ja so kommen.“
*)Karl Röver wurde schon vor der Machtübernahme durch die Nazis im Reich Ministerpräsident des Landes und damaligen Freistaates Oldenburg als Vorsitzender der stärksten Fraktion im Oldenburger Landtag 1932 nach der Landtagswahl im Frühjahr. Nachdem Hitler und seine engsten Parteigenossen, vor allem Göring und Goebbels, Ende Januar im Berliner Hotel „Kaiserhof“ in der Nähe des Reichspräsidentenpalais auf Hitlers Ernennung zum Reichskanzler gewartet hatten und die Ernennung dann am 30. Januar durch Hindenburg erfolgte, schrieb Goebbels wenig später einen für kurze Zeit zum Bestseller gewordenen Bericht „Vom Kaiserhof zur Reichskanzlei“. Karl Röver wurde im Zuge der „Gleichschaltung“ der Reichs- und Länderbehörden mit den Parteiämtern zum „Reichsstatthalter“ des Gaues Weser-Ems ernannt.
Es kommt ein Witz auf, Ilse kommt damit nach Hause: Nachdem das Buch von Goebbels – wie Karl Röver auch Gauleiter der NSDAP, allerdings von Groß-Berlin, deshalb seine herausragende Stellung in der Partei – ein solcher Erfolg war, will Röver, der vor seiner Wahl zum Ministerpräsidenten ein Trikotagengeschäft in der Heiligengeiststraße in Oldenburg besaß, dem Goebbels-Erfolg nicht nachstehen und schreibt ein Buch mit dem Titel „Vom Strumpfhalter über den Büstenhalter zum Reichsstatthalter“.
Ein drittes Mal erlebe ich Hitler im Februar 1933 ebenfalls auf dem Pferdemarkt an einem Abend, wo er – nach seiner Ernennung zum Reichskanzler – mit der üblichen, immer gleichen Inszenierung zur letzten demokratischen Reichstagswahl redet. Auf dem gegenüberliegenden Platz vor der alten Kaserne, in der nach dem Ersten Weltkrieg Arbeiterwohnungen eingerichtet worden waren, die eher Elendsquartieren gleichen, hat die Polizei Scheinwerfer aufgestellt, die gegen die Fenster der Wohnungen gerichtet sind, weil zu der Zeit in dem Gebäude viele Anhänger der KPD wohnen und von ihnen Demonstrationen gegen Hitler und seine Regierung befürchtet werden, obwohl Kommunisten, die auf der schwarzen Liste der NSDAP stehen, von den Nazis schon in „Schutzhaft“ genommen worden sind. Für meine Freunde und mich war es zu der Zeit, als die meisten Deutschen einen politischen Wandel nach den Jahren des wirtschaftlichen Niederganges wollten, ein großartiges Erlebnis, Hitler, den Führer eines neuen Deutschland, zu sehen und reden zu hören. Nur die radikalen Gegner Hitlers warnten vor ihm: „Wer Hitler wählt, wählt den Krieg!“ Das aber glaubte die überwiegende Mehrheit in Deutschland nicht.
Nach der sogenannten Machtübernahme der NSDAP sind schon die meisten Anhänger der KPD und auch der SPD sowie viele Juden und Leute, die sich bei den Nazis unliebsam gemacht haben, von SA-M ännern in wilde Konzentrationslager gebracht worden, wo sie eine „Umerziehung“ über sich ergehen lassen sollen. Manche überleben dies nicht. Die Kommunisten sind ihrer gesamten Führung beraubt und können wegen Verbots an der letzten Reichstagswahl im März 1933 nicht mehr teilnehmen. Demokratisch ist diese Wahl nicht mehr zu nennen, die Nazis bauen ihren Stimmenvorteil gegenüber der letzten Reichstagswahl noch aus, vor allem wegen des Verbots der KPD nach dem Reichstagsbrand am 27. Februar 1933, den Hitler den Kommunisten in die Schuhe schiebt, sowie der Selbstaufgabe mehrerer Splitterparteien und der Verhaftung oppositioneller Politiker vor allem von den Sozialdemokraten. So bildet die NSDAP mühelos die weitaus stärkste Fraktion im Reichstag.
Es soll erwähnt werden, daß zahlreiche Mitglieder des Reichsbanners beim rechtskonservativen „Stahlhelm, Bund der Frontsoldaten“, Unterschlupf finden und so zunächst vor dem Zugriff der Nazis geschützt werden. Die Führung des „Stahlhelm“, hauptsächlich der zweite Bundesführer Duesterberg, ist mißtrauisch gegenüber den Nazis und hofft wohl, dem „Stahlhelm“ mit der dadurch gewachsenen Mitgliederzahl mehr Gewicht zu verleihen. Aber den „Stahlhelm“ ereilt das gleiche Schicksal wie den nationalen Parteien, die mehr oder weniger zwangsweise sich selbst auflösen. Viele „Stahlhelm“-Mitglieder werden in die SA übernommen, so auch mein Onkel Dietrich Linnemann. Ähnlich ergeht es den Jugendorganisationen des „Stahlhelm“. Die Mitglieder des „Jungstahlhelm“ (Jungsta) werden in die Hitlerjugend (HJ), die „Scharnhorst“-Mitglieder in das „Deutsche Jungvolk“ (DJ) übernommen. Vater will nicht SA-Mitglied werden, ebensowenig mein späterer Schwiegervater Karl Heinrich Müller, der „Stahlhelm“-Landesführer gewesen ist. Die SA hat einen zu schlechten Ruf als Schlägertruppe.
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