Die Wertebegriffe in Deutschland waren während und nach dem Ersten Weltkrieg so sehr verkümmert – und das vor allem in führenden rechts- und auch linksextremen Kreisen der Bevölkerung –, daß Ethik und Moral kaum noch von wesentlicher Bedeutung waren. Unter den Behauptungen solch brüchiger Wertevorstellungen wuchsen wir Jüngeren auf und erlagen ihnen. Nur so konnten wir gutheißen, was im höheren Sinne verwerflich war. Mir fällt ein Satz ein, den der britische Verleger und Publizist Victor Gollancz etwa um 1947 schrieb, als die Nazigreuel in ihrem ganzen Ausmaß publik geworden sind: Er sei dankbar, daß das Schickal ihm verwehrt hatte, auf der falschen Seite gestanden zu haben. (Aus „Neue Auslese – Alliierter Informationsdienst“ 1947).
Später in der Kriegsgefangenschaft verhalte ich mich manchmal so, als sei ich völlig überzeugt vom Nationalsozialismus, in falsch verstandener oder vielleicht auch überzogener „Vaterlandstreue“, häufig auch nur aus oppositionellem Widerspruchsgeist gegenüber amerikanischen Gesprächspartnern, die ihren „American way of Life“ uns Kriegsgefangenen gegenüber für unseren Geschmack oft zu dick auftrugen. Als Kriegsgefangene, die durch ihre meist in der Landwirtschaft eingesetzten Arbeitseinsätze vielfach auch mit Benachteiligten dieses Lebensstiles zusammen kommen und mit ihnen zusammen arbeiten, kann man uns jedenfalls bis zum Kriegsende nicht richtig von diesem Weg überzeugen, obwohl vieles an amerikanischer Lebensart uns doch beeindruckt. Oft wollen wir jedoch lieber das Negative daran sehen als das Positive. Gegen Ende des Krieges verschließe ich mich nicht mehr der Realität; viele Kameraden bleiben jedoch bei ihren durch die NS-Erziehung fixierten Vorurteilen, vor allem auch gegen jüdische Offiziere und Unteroffiziere der US-Army, von denen es nicht wenige in Leitungs- und Verwaltungsfunktionen in den Kriegsgefangenenlagern gibt, weil die Meisten von ihnen Deutsch sprechen.
Im und nach dem Kriege wird mir zur Gewißheit, was ich schon vorher am Nationalsozialismus bemängele: „Volksgemeinschaft“ ist ein reines Propagandagerede der oberen Naziführung; sie ist in der Wirklichkeit nicht gewollt, sondern dient der von der Masse geforderten Gefolgschaft und ihrem Gehorsam gegenüber den Nazibonzen. „Ein Volk, ein Reich, ein Führer“, mit diesem hysterischen Massengeschrei haben wir – das deutsche Volk – unsere tiefste Selbsterniedrigung freiwillig auf uns genommen, wenn ich selbst auch nie in die Lage gekommen bin – was ich später fast als Geschenk meines Schicksals empfinde – , mich an diesem Massengeschrei und den ständigen „Heil“-Rufen zu beteiligen.
Daß sich die Nazi-Ideologie schnell und systematisch nach der NS-Machtübernahme in weite Bereiche des gesellschaftlichen und auch Berufslebens einnistet, geht aus vielen Beispielen hervor. Jugendliche dürfen nicht mehr selbständig, d.h. außerhalb von DJ- oder HJ-Verbänden, auf Fahrt gehen. Die Bildung von Verbänden, Vereinen, Clubs u.a. wird verboten. Auch Berufs- und Interessenverbände können sich nur unter der Obhut nationalsozialistischer Vorherrschaft bilden oder werden ihr nach 1933 unterstellt. Dies geschieht alles im Zuge der „Gleichschaltung“ allen gesellschaftlichen und beruflichen Lebens. In der Sowjetunion ist die Gleichschaltung unter kommunistisch-stalinistischer Herrschaft allerdings noch viel weiter gediehen als bei uns im „Dritten Reich“, in dem es doch noch Möglichkeiten gibt, sich dem absoluten Zwangssystem zu entziehen, weil Hitler im Interesse seiner Kriegsvorbereitungen manche Maßnahmen mit lockerer Hand durchsetzen läßt und dem Prinzip des „Teile und Herrsche“ unterstellt. So gibt es Möglichkeiten, dem absoluten Zwang gelegentlich auszuweichen, was ja auch mir selbst durch mein Fernbleiben vom HJ-Dienst und zu Anfang des Krieges durch meine und meines Freundes Alfred Brünjes Nichtteilnahme an der vormilitärischen Ausbildung gelingt .
Onkel Didi, der in diesen Jahren Mitglied der KFZ-Meisterprüfungskommission ist, erzählt mir einmal, wie wichtig für den Ausbildernachwuchs im Handwerk die „richtige“ nationalsozialistische Gesinnung sei. So gehört zur theoretischen Prüfung zum Erwerb des Meisterbriefes in allen Handwerksberufen auch das Fach „Volksgemeinschaftskunde“, und eine der Prüfungsfragen in diesem Fach lautet: „Was kommt nach dem Dritten Reich?“ Wer diese Frage nicht damit beantwortet, daß nach dem dritten Reich kein anderes kommen könne oder ähnliches im Sinne dieser Auffassung, wird vom weiteren Verlauf der Prüfung ausgeschlossen. Hier zeigt sich der völlig absurde und bornierte Ewigkeitsanspruch der Nazi-Ideologie.
Nicht aus der Erinnerung gehen mir einige der Jungvolk- und Hitlerjugendlieder, die ich während meiner aktiven Mitgliedschaft in diesen Organisationn wie alle anderen Jungen und Mädchen *)lernen muß. Das als „Deutsches Jugendlied“ anfangs so genannte „Uns‘re Fahne flattert uns voran, ...“ habe ich fast vergessen; das Lied endet im ersten Vers mit „... denn die Fahne ist mehr als der Tod.“ Es gehört zur Begleitmusik des Films „Hitlerjunge Quex“ mit dem damals berühmten Filmschauspieler Heinrich George als kommunistischen Vater, der sich nach der Ermordung seines Sohnes durch andere Kommunisten in einer Anwandlung von Vaterliebe und glühendem Patriotismus von seiner Partei, der KPD, abwendet. Alle Jungen und Mädchen („Mädel“ heißt es offiziell) müssen in gemeinsamen Veranstaltungen diesen Film sehen. Später tritt das Lied völlig in den Hintergrund. „Feiertagshymne der Deutschen Jugend“ wird das folgende Lied:
Auf hebt uns‘re Fahnen in dem frischen Morgenwind.
Laßt sie weh‘n und mahnen die die müßig sind.
Wo Mauern fallen bau‘n sich and‘re vor uns auf.
Doch sie weichen alle uns’rem Siegeslauf.
(weitere Strophen)
Um die Fahne und ihre angebliche Symbolkraft geht es oft in den HJ-Liedern. Viel gesungen wird auch das folgende Lied:
Es zittern die morschen Knochen
der Welt vor dem großen Krieg.
Wir haben die Ketten gebrochen,
für uns war‘s ein großer Sieg.
Wir werden weiter marschieren
wenn alles in Scherben fällt,
denn heute hört *)uns Deutschland
und morgen die ganze Welt.
(weitere Strophen)
*)Nicht „gehört“. Dies wurde nach 1945 häufig behauptet, weil es tatsächlich oft so gesungen wurde.
In manchen Liedern wird auch von Freiheit gesungen. So heißt es in einem Lied:
Freiheit ist das Feuer, ist der helle Schein.
Solang‘ sie noch lodert ist die Welt nicht klein.
„Freiheit“, wie der Begriff in solchen Liedern oder in Versen und Reden gebraucht wird, soll allerdings nie näher erläutert werden. Auf keinen Fall ist damit die Freiheit des Einzelnen oder gar demokratische Freiheit gemeint. Im „Dritten Reich“ ist der Mensch nicht frei, er gehört sich nicht selbst, sondern „dem Wohle des Ganzen“, was man auch immer darunter verstehen soll. Realistisch gesehen ist der Einzelne nichts als Sklave des nationalsozialistischen Herrschaftssystems. Er kann Entscheidungen für sich selbst nur unter diesem System geduldeten Bedingungen treffen.
Ein anderes Lied, das häufig auf HJ/DJ-Feiern gesungen wird, beginnt:
Heilig Vaterland, in Gefahren
Deine Söhne sich um dich scharen …
Oder besonders schwülstig:
Deutschland, heiliges Wort,
Du voll Unendlichkeit,
Über die Zeiten fort seist Du gebenedeit
Heilig sind Deine Seen, heilig Dein Wald
Und der Kranz Deiner stillen Höhen bis an das grüne Meer.
Die Bedeutung der Wörter in diesen angeblich weihevollen HJ-Liedern berührt mich nicht. Wenn ich mitsinge, denke ich nicht über sie nach. Wenn auf „Heimabenden“ darüber gesprochen wird oder der Jungenschafts-, Jungzug- oder Fähnleinführer einen Vortrag darüber hält, geht es bei mir ins eine Ohr rein und aus dem anderen wieder raus. Es scheint den meisten meiner Kameraden beim Jungvolk nicht anders zu gehen. Die Texte dieser Lieder sind einfach zu uninteressant und reizen deshalb nicht unsere auf andere Dinge gerichtete Aufmerksamkeit. Die Melodien der meisten dieser „Hymnen“ mit ihrem verlogenen Idealismus haben einen pseudo-weihevollen Charakter; fröhliche und unbeschwerte Lieder finden sich im „HJ-Liedgut“ kaum. Solche rassistischen Inhalts gibt es auch, sie gehören jedoch zu einer anderen Kategorie.
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