Unschlüssig starrte er auf sein Notizbuch, dann musterte er die Wände des Besucherraumes genauestens. Ob hier irgendwo ein Abhörapparat installiert war oder nicht, konnte er unmöglich sagen. Aber er war sich ziemlich sicher, dass es keine Überwachungskamera geben konnte. Leise nahm er seinen Füller auf, schrieb Kaltenbrunns eigene Worte auf die leere rechte Seite und schob ihm das Büchlein zu. Der Mann reagierte noch immer nicht erkennbar.
»Doktor Kaltenbrunn, bitte. Erinnern Sie sich, was passiert ist? Wissen Sie, was mit Professor Heise geschehen ist?«
Ein unartikulierter Laut erklang. Der Mann wiegte sich schwerfällig hin und her, und Keller schrak schockiert zurück, als das Licht der Lampe auf Kaltenbrunns Gesicht traf. Die vormals flirrenden Augen waren stumpf wie erloschene Kerzen und blutunterlaufen. Aus dem einen Mundwinkel floss Speichel am Kinn herunter und tropfte auf den schmutzigen Anstaltskittel.
»Doktor Kaltenbrunn«, flüsterte Keller eindringlich. »Können Sie mich verstehen? Nicken Sie, oder geben Sie irgendein Zeichen.«
Der Mann hob langsam seine linke Hand und ließ sie auf die Nachricht in Kellers Notizbuch sinken. Damit schien seine Kraft aufgezehrt, nichts weiter geschah.
»Können Sie mir sagen, ob Kaltenbrunn Ihr richtiger Name ist? Wo wurden Sie geboren? Wo haben Sie studiert? Wo haben Sie Ihren Doktor gemacht?«
Kellers fühlte eine Gänsehaut auf seinem Rücken. Er hatte schon genug Unschönes in seinem Beruf erlebt, auch die eine oder andere fürchterlich zugerichtete Leiche, aber dieses Irrenhaus bot Grauen in einer anderen Qualität. Was hatten diese sogenannten Ärzte mit Kaltenbrunn angestellt? Zwei Nächte zuvor hatte der Mann immerhin noch sprechen können, wirr und schwer verständlich vielleicht, doch wenigstens hatte er Keller wahrgenommen... Jetzt sah er nichts als inneren Kampf in den Augen des Mannes.
Kalte Wut erfasste Keller, denn er war sich völlig sicher, dass er hier nicht Kaltenbrunns Kampf gegen den Wahn sah, sondern den gegen die Medikamente. Moreaux hatte ihm ja bereits bestätigt, dass diese Präparate alles andere als eine heilsame Wirkung besaßen.
»Sie erinnern sich, nicht wahr?«, fragte er noch einmal und deutete auf das Notizbuch, das nach wie vor unter Kaltenbrunns Hand lag. War das ein Nicken? Keller war sich nicht sicher. Mit einmal Mal zuckten die Finger wieder, kratzten beharrlich über die unebene Tischplatte und das Papier, als versuchten sie, etwas zu erreichen.
Den Stift! Keller biss sich auf die Zunge, um nichts Verräterisches zu äußern, und reichte Kaltenbrunn das Schreibgerät. Ihm entging nicht, dass er damit einem Mörder erneut zu dessen Tatwaffe verhalf. Denk bloß daran, ihm den Füller wieder abzunehmen. Aber der Mann war nicht in der Verfassung, jemanden zu attackieren. Und warum sollte er auch? Mit Mühe schloss er die Finger seiner linken Hand. Womit eine weitere Frage beantwortet wäre, dachte Keller.
Minutenlang sah er dem vermeintlich Geisteskranken dabei zu, wie er die Konzentration sammelte, um seinen Fingern den Befehl zu geben, etwas niederzuschreiben. Gleich, was Kaltenbrunn dabei genau im Weg stand, er schaffte dieses Mal nicht, es zu überwinden. Ein schwaches, zittriges A war das Einzige, was er zu Papier brachte, bevor seine dünne Verbindung zur Realität endgültig riss. Sein Kopf sank nach vorn, die Hände fielen seitlich herunter, und der Füller rollte unter den Tisch. Keller sammelte ihn auf, schraubte die Kappe fest und verließ den Raum.
Immerhin war damit die Frage beantwortet, weshalb die Piechkow so schnell nachgegeben hatte. Kaltenbrunn war ein Wrack, vollgepumpt mit Drogen. Heises Nachfolgerin würde sich noch wundern, wenn sie glaubte, ihn mit solchen Mitteln abschütteln zu können.
Keller ließ sich auf einem der ungepolsterten Holzstühle in der Nische neben der Empfangstheke nieder und rekapitulierte die bisherigen Kontakte mit Kaltenbrunn. Wenn er nicht brutal sediert wurde, war der Mann in der Lage, eine Kontaktaufnahme mit der Außenwelt am Personal der Nervenheilanstalt vorbei zu planen und kompromisslos durchzuführen. Mit der Wahl des Opfers ging er sicher, dass Aufsehen erregt wurde und die Ermittlungen intensiver geführt wurden, als wenn die lokale VP es als Routinefall abhakte. Des Weiteren hatte er seine Nachricht so geschickt getarnt, dass nur der gewünschte Empfänger sie finden würde. Und dass Kaltenbrunn mit der Polizei reden wollte, daran gab es für Keller keinen Zweifel mehr. Was wollte ihm der alte Wissenschaftler mitteilen? Was war so wichtig für ihn? Etwas, wofür er sogar einen Mord auf sich nahm.
Auf die Kooperation der Klinikleitung konnte er bei seinen Ermittlungen wohl endgültig nicht hoffen. Vielmehr schien es so, als wolle man mit allen Mitteln verhindern, dass der Patient irgendetwas Verwertbares von sich gab. Nur warum? Und wieso regte sich eigentlich niemand ernsthaft über den Einbruch in Heises Büro auf? Alle taten so, als hätte man es mit einem Dummejungenstreich zu tun, den man nicht weiter zu erwähnen brauchte. Dabei hatte es in diesem Zusammenhang einen weiteren Toten gegeben. Einen, der sich offenbar frei im Gebäude bewegen konnte, den aber niemand kennen wollte; auch deswegen herrschte keinerlei Unruhe.
Keller war froh, dass er im Eifer des Gefechts dafür gesorgt hatte, dass der verunglückte Eindringling bei Doktor Moreaux in Döbeln lag. Vielleicht konnte die Ärztin Hinweise auf seine Identität feststellen. So wie sich die Dinge in der Klinik jetzt darstellten, hätte es ihn nicht gewundert, wenn das Klinikpersonal anderenfalls für eine schnelle Beseitigung gesorgt hätte. Man hätte es als Unfall während der Dienstzeit deklariert – und schon wäre die Angelegenheit erledigt gewesen. Und ein anstaltseigenes Krematorium gab es hier praktischerweise auch, das hatte er schon mitbekommen.
Keller hörte leise quietschende Schritte im Flur, die sich näherten. Klang nicht nach der Springfeld, die man schon am schweren Atmen erkannt hätte. Als es Tassel war, der im nächsten Moment an ihm vorüberkam, fasste der Oberleutnant nach dem Ärmel des Pflegers. »Einen kurzen Moment noch, Herr Tassel. Entschuldigen Sie die Störung.«
»Mann, haben Sie mich erschreckt!« Tassel griff sich an die Brust. »Was gibt's denn noch?«
»Nun. Wir sind noch gar nicht dazu gekommen, uns über den Vorfall gestern Abend zu unterhalten.«
»Herr Kommissar, ich bin wirklich in Eile. Ich muss der Schwester helfen, die kriegt die alte Schnetzkow nicht alleine aus der Wanne.«
»Lassen Sie der Dame die Freude, noch ein paar Minuten im Badewasser zu verweilen.«
»Ich wüsste wirklich nicht, wie ich Ihnen helfen könnte, Kommissar, ehrlich. Sie waren doch dabei.«
»Setzen Sie sich für einen Moment, Genosse Tassel.«
Der Krankenpfleger zögerte kurz, kramte eine verknautschte Packung Juwel Filter hervor und ließ sich neben dem Oberleutnant nieder. »Auch eine?«
»Lassen Sie mal, vielen Dank.« Keller wartete, bis Tassel seine Aufmerksamkeit von der Zigarette wieder zu ihm verlagert hatte. »In der Angelegenheit des abgestürzten Einbrechers sind Sie zurzeit mein wichtigster Zeuge.«
Der Klinikangestellte ließ sich zu keiner Regung hinreißen.
»Sie müssen mir doch irgendetwas sagen können. Schließlich ist der Mann in Pflegeruniform hier herumgelaufen, während Ihrer Schicht. Außerdem kannte er sich anscheinend bestens in der Klinik aus. Es erscheint mir absolut unwahrscheinlich, dass er hier nicht schon vorher gesehen wurde.«
»Trotzdem habe ich ihn noch nie gesehen, wirklich.«
Keller nickte versonnen. »Ja, vermutlich haben Sie recht. Wahrscheinlich können Sie mir in der Tat nicht weiterhelfen.«
»Nein, kann ich nicht. Wenn ich etwas wüsste, würde ich's Ihnen sagen, glauben Sie mir.« Tassel schnippte die lange Asche auf den Boden, was ihm augenblicklich peinlich war. »Eigentlich darf man auf den Gängen nicht rauchen, deswegen gibt's auch keine Ascher. Das machen alle so. Außerdem wird ja jeden Morgen gewischt...«
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