»Major Schüttau.«
»Piechkow.« Die Stimme der neuen Klinikleiterin schien heller als zuvor. »Bevor Ihr Kommissar hier wieder Drohungen gegen meine Mitarbeiter ausstoßen muss, schicken Sie ihn her. Schwester Springfeld hat ausdrückliche Anweisungen von mir, Oberleutnant Keller Zugang zu unserem Patienten Kaltenbrunn zu ermöglichen.«
»Doktor Kaltenbrunn kann also vernommen werden? Oberleutnant Keller hat mir berichtet, dass der Mann zwischenzeitig in ein anderes Gebäude verlegt worden sei.«
Die Ärztin schwieg einen kleinen Moment zu lang. »Eine notwendige Maßnahme. Kaltenbrunn musste behandelt werden. Aber nun ist er wieder im Hause.«
Schüttau riss sich zusammen. Es war vollkommen sinnlos, Piechkow auf ihre Lügen festzunageln, auch wenn er gern wieder einmal die erlernten Verhörtechniken zur Anwendung gebracht hätte. Die Hauptsache war, dass die Klinik bereit war zu kooperieren. »Ich kann dem Oberleutnant also sagen, dass er sich auf den Weg machen soll?«
»Bitte, Genosse Major. Schwester Springfeld wird ihn erwarten. Er kennt sie bereits.«
Da wird Oberleutnant Keller ganz aus dem Häuschen sein, dachte Schüttau. Er verabschiedete sich von der Piechkow und legte auf.
Er fand Keller in seinem kleinen Büro, nur einige Schritte den Flur hinunter, auf dem sich die Morduntersuchungskommission der Leipziger K befand. Schüttaus kritischem Blick entging weder das zerknautschte Jackett auf dem Besucherstuhl noch der geborstene und notdürftig geflickte Telefonhörer. Mit einem lautstarken Seufzen machte er den Oberleutnant auf sich aufmerksam.
»Major Schüttau.« Keller wandte sich von dem kleinen Rasierspiegel ab.
»Rasieren Sie sich schnell zu Ende. Schwester Springfeld wird entzückt sein, Sie zu sehen, Genosse Oberleutnant. Ich habe soeben Meldung aus Waldheim erhalten, dass Sie mit Kaltenbrunn sprechen können.«
»Ach, wirklich?« Keller fuhr mit dem Messer über den schaumbedeckten Teil seiner linken Wange und wischte sich mit einem Geschirrtuch die Seifenreste aus dem Gesicht.
»Haben Sie daran etwas auszusetzen, Oberleutnant?«
»Nicht direkt, Genosse Major.« Keller war bereits damit beschäftigt, eine kleine Tasche aus dem Einbauschrank hinter seinem Schreibtisch zu befüllen. Der Rasierer und das knittrige Jackett wanderten hinein. Dann die Akten, die aufgeschlagen auf dem Tisch lagen. »Ich denke, dass ich für ein oder zwei Nächte in Waldheim bleiben sollte. Bis diese ganze Angelegenheit geklärt ist.«
Schüttaus erster Reflex war es, dem Oberleutnant solche Eigenmächtigkeiten zu untersagen. Konnte Keller nicht ein Mal nach den Regeln spielen? Einen Antrag stellen, oder seinen Vorgesetzten wenigstens um die erforderliche Genehmigung bitten? Schüttau konnte sich beim besten Willen nicht erinnern, dass der Mann jemals richtig um seine Erlaubnis gefragt hatte. Andererseits... Seit die Piechkow ihn zurückgerufen hatte, gab es für den Major keinen Zweifel mehr, dass in Waldheim etwas Seltsames im Gange war.
»Zwei Bedingungen, Keller. Schauen Sie bei den Kollegen in Döbeln vorbei wegen diesem Toten vom Dach. Und erstatten Sie mir fernmündlich Meldung, sobald Sie Kaltenbrunn endlich verhört haben.«
»Selbstverständlich, Major Schüttau«, gab Keller leutselig zurück.
Schüttau knurrte. »Glauben Sie nicht, dass ich nicht wüsste, dass Sie meinen, Sie könnten machen, was Sie wollen«, hielt er ihm vor. »Diese Anstaltsleiterin war alles andere als begeistert von Ihrem Umgang mit den Angestellten der Klinik. Ich erwarte, dass mir von dieser Seite keine Klagen mehr zu Ohren kommen. Haben wir uns verstanden, Oberleutnant?«
Keller nickte andeutungsweise, aber Schüttau sah genau, dass er in Gedanken schon wieder in Waldheim bei seinen Ermittlungen war und die Anweisung in den Wind schlagen würde, sobald er in eine entsprechend nervenzehrende Situation mit Springfeld oder Tassel geriet. Dieser Keller war einfach ein wenig aufbrausend, dachte er. Vermutlich würde er deshalb auch keine große Karriere machen. Schüttau brummte ein »Auf Wiedersehen« und war schon halb aus der Tür, als Keller ihn noch einmal ansprach. »Sie finden das doch auch nicht normal, dass diese Piechkow so schnell einlenkt und den Kaltenbrunn mit einem Mal auftreiben kann.«
»Was ist schon normal in einem Irrenhaus?«
»Vielleicht haben Sie recht.« Keller schloss die Schnallen seiner Tasche und hob den Riemen auf seine Schulter. »Aber ich sage Ihnen, dass der Kaltenbrunn die Klinik niemals verlassen hat. Und da frage ich mich, warum er nun angeblich wieder da ist und ich mit ihm sprechen darf.« Er winkte ab. »Egal, ich bin gespannt, was die diesmal für mich inszeniert haben.«
Es wurde erst richtig hell, als Keller Döbeln bereits hinter sich gelassen hatte. Die gute Frau Doktor Moreaux war inzwischen sicher in ihrem Bett angekommen. Vielleicht konnte er ihr später am Tag noch einen Besuch in der Klinik abstatten. Keller atmete tief durch, als ihm einfiel, dass er heute nicht zurück nach Leipzig fahren musste. Noch vor zehn Uhr stellte er sein Dienstfahrzeug vor der Klinik ab, und diesmal wurde er auf sein Klingeln hin sogar eingelassen. Geht doch. Er stieg die Treppe in den ersten Stock hinauf und wurde von einer nervösen Schwester in Empfang genommen, die er vom gestrigen Abend zu kennen glaubte. Richtig, die hat mit den anderen auf dem Hof gestanden. Keller ermahnte sich, später nicht den Besuch bei der Polizeidienststelle in Döbeln zu vergessen. Auch der abgestürzte Unbekannte war schließlich Teil dieses höchst merkwürdigen Falles.
»Wo ist denn Schwester Springfeld?«, fragte er die junge Frau, erleichtert weil die graue Eminenz der Abteilung ihn anscheinend vergessen hatte.
Die Schwester zuckte mit den Schultern. »Sie macht gerade ihre Morgenrunde, Genosse Oberleutnant. Aber sie lässt fragen, ob Sie nach Ihrem Gespräch mit Doktor Kaltenbrunn im Empfang auf sie warten könnten. Es wäre wichtig.«
»Worum geht es denn?« Keller fühlte sich angesichts des bevorstehenden Vieraugengesprächs unbehaglich.
Doch Schwester Melanie, wie er auf ihrem Kittel lesen konnte, wusste nichts Genaues, und Keller ärgerte sich jetzt schon wieder über Oberschwester Springfeld. Was führte sie wohl im Schilde? Welchen Anteil hatte sie an diesem Verwirrspiel?
»Hier, bitte«, riss die Schwester ihn aus seinen Gedanken. Sie waren vor dem gleichen Besucherraum angelangt, in dem er bereits vor zwei Nächten dem Mörder Kaltenbrunn gegenübergesessen hatte.
Keller betrat angespannt den unwohnlichen Raum. Kaltenbrunn saß auf dem gleichen Stuhl wie zuvor. Davon abgesehen hatte der Mann nicht viel mit dem zwanghaften, zittrigen Irren gemeinsam, den er Mittwoch, kurz nach Mitternacht verhört hatte. Der vermeintliche Doktor saß still zusammengesunken da und starrte auf seine zusammengelegten Hände. Vielleicht würde er endlich etwas Verwertbares in Erfahrung bringen können, dachte Keller. So, als würde er sich einem scheuen Tier nähern, trat er bedächtig in den Raum hinein und zog langsam sein Notizbuch aus der Jacke.
»Doktor Kaltenbrunn?«
Der Mann zeigte keine Reaktion auf seine Frage. Aber er schrak auch nicht zurück oder begann, wieder irr im Raum herumzustarren. Keller betrachtete das als gutes Zeichen und zog den zweiten Stuhl mit einem Quietschen unter dem Tisch hervor. Er legte das Büchlein aufgeschlagen vor sich hin und plazierte den Stift in die Mitte.
»Doktor Kaltenbrunn, erinnern Sie sich an mich? Wir haben uns vorletzte Nacht schon einmal unterhalten. Über Professor Heise.«
Kaltenbrunns Kinn war auf die Brust gesunken, das fettige, graue Haar hing weit in sein Gesicht und verwehrte einen Blick auf seine Augen. Hin und wieder zuckten die dürren Finger.
»Doktor Kaltenbrunn, sprechen Sie mit mir. Ich–« Mit einem Mal hatte der Oberleutnant das Gefühl, einen Knoten im Hals zu haben. Seine Gedanken überschlugen sich. Konnte Kaltenbrunn nicht sprechen, oder wollte er nicht? Keller war kurz davor gewesen, ihm zu sagen, dass er seinen Hilferuf gefunden hatte und bereit war, ihm zuzuhören. Aber vielleicht sprach der Doktor aus gutem Grund nicht. Was, wenn in den Räumen dieser Irrenanstalt mitgehört wurde? Das war alles andere als eine verrückte Idee, fühlte Keller. Er machte sich keine Illusionen darüber, dass die Wände hier Ohren haben konnten. Durfte er also die geheime Nachricht überhaupt erwähnen? Was würde geschehen, wenn jemand vom Klinikpersonal davon erfuhr?
Читать дальше