»Das passt doch. Und unser Vitaminfläschchen?«
»Nun… Die Lösung enthält auf jeden Fall Lithiumsalze in hoher Konzentration. Vom medizinischen Standpunkt ergibt das durchaus Sinn, denn diese Salze werden oft als Antidepressiva eingesetzt.«
»Hm«, brummte Keller.
»Auch diese Wirkstoffe können zu Gedächtnisstörungen und sogar Halluzinationen führen. Was sonst in der Lösung enthalten ist, konnte ich auf die Schnelle noch nicht feststellen. Meine Möglichkeiten der Laboranalyse sind natürlich eingeschränkt.«
»Wenn ich Sie richtig verstehe, dann erklärt diese Medikation ganz gut den Zustand, in dem ich Kaltenbrunn vorgefunden habe?«
»Ja, das könnte man so sagen.« Doktor Moreaux nippte an ihrem schwarzen Kaffee. »Ich bin kein Neurologe oder Psychiater, aber als – sagen wir interessierter – Laie würde ich sagen, dass diese Behandlung nur bedingt geeignet ist, Paramnesie oder eine andere Gedächtnisstörung positiv zu beeinflussen. Sicherlich helfen die Mittel bei der Beruhigung des Patienten, und dass Doktor Kaltenbrunn unter depressiven Verstimmungen leidet, ist plausibel…« Erst jetzt nahm Moreaux auf der anderen Seite des Schreibtisches Platz. »Allerdings weiß ich ja, wie gesagt, noch nicht, welche Substanzen das sogenannte Vitaminpräparat sonst noch enthält.«
»Frau Doktor, ich bin Ihnen zu großem Dank verpflichtet. Sie haben was gut bei mir.« Keller zögerte, weil er seine einzige Verbündete nicht vor den Kopf stoßen wollte. »Aber hätten Sie mir das nicht auch fernmündlich mitteilen können? Ich meine, schließlich ist Döbeln nicht um die Ecke. Nicht, dass ich Ihren Einsatz nicht zu schätzen weiß...«
»Telefonisch? Wo Sie noch nicht einmal Ihrem Vorgesetzten so richtig über den Weg trauen? Nein, nein, entweder ganz oder gar nicht, Genosse Oberleutnant. So einfach werden Sie mich nicht wieder los.«
Keller schob den Ärmel seines Jacketts hoch und tippte auf das Glas seiner Armbanduhr. »Sieben durch, Kollegin. Da müssten wir schon 'ne ordentliche Wurstbemme in der Kantine kriegen.«
Schüttau wischte sich mit dem Handrücken einige Krümel aus den Mundwinkeln. Einfach unwiderstehlich so eine dick belegte Semmel zum ersten Kaffee. Nett von Keller, ihm eine aus der Kantine mitzubringen. Schüttau zog eine Grimasse des schlechten Gewissens. Der Oberleutnant und er hatten ihre Schwierigkeiten miteinander, doch er wusste sehr genau, dass Keller einer der besten Männer bei der Leipziger Kriminalpolizei war. Der hatte Gespür, der hatte Sitzfleisch. Und war manchmal unerträglich. Die Unterredung mit Keller und dieser Doktor Moreaux aus Döbeln hatte ihm alles drei bestätigt.
Die Frage war, was er nun tun sollte. Wie konnte er gleichzeitig seine Anweisungen befolgen und dennoch die Arbeit so machen, wie sein Eid und – schwieriger zu ignorieren – sein Selbstverständnis es verlangten? Schließlich musste in Professor Heises Tod angemessen ermittelt werden, und Keller war wie immer unkonventionell, aber zuverlässig, was das anging. Doch es war auch klar, dass der Oberleutnant zumindest in den Augen einiger Funktionäre zu weit ging. Warum bremste man Keller? Ging es nur darum, das Ansehen des verdienten Wissenschaftlers Professor Doktor Wolfgang Heise nicht zu beschädigen, wie man ihm versicherte? Was erwartete man jetzt von ihm? Kellers Bericht gab Anlass zu weiteren Nachforschungen, das war unbestreitbar. Außerdem ärgerte es Schüttau, die Befugnisse der Volkspolizei infrage gestellt zu sehen. Was fiel diesen arroganten Heinis von der Klinik ein, einem ermittelnden Oberleutnant der Kriminalpolizei Zugang zu einem Verdächtigen zu verweigern? War das tatsächlich nur die Überheblichkeit eines wichtigtuerischen Arztes, oder hatte da jemand ganz anderes seine Finger im Spiel?
Schüttau zog sein Telefon heran und suchte aus Kellers Ermittlungsbericht die Nummer der Psychiatrischen Klinik Waldheim heraus. Er zögerte. Dieser ganze Fall um Heises Tod stank zum Himmel, und selbst wenn Kaltenbrunn fraglos der Mörder war... das Ganze ergab so einfach keinen Sinn. Er konnte nicht zulassen, dass seine Mordkommission vorgeführt wurde.
»Sonne.«
»Major Schüttau, BdVP Leipzig. Ich bin der Leiter der hiesigen MUK.«
Obwohl er das Fräulein am anderen Ende der Leitung nie gesehen hatte und auch nie kennenlernen würde, hatte er schon nach diesem einen Wort einen lebhaften Eindruck von seinem Gegenüber. Er stellte sich eine nervöse, dünne Blondine vor, mit lackierten Nägeln, toupierter Kurzhaarfrisur und blasiertem Gesichtsausdruck.
»Worum geht es bitte?«
»Das können Sie sich doch sicherlich denken, Fräulein Sonne. Oberleutnant Keller musste mir vorhin bedauerlicherweise mitteilen, dass von Ihrer Seite nur wenig Kooperationsbereitschaft im Mordfall Heise erkennbar ist.«
Die Leitung war wie abgeschnitten. Das Fräulein atmete anscheinend nicht einmal.
»Ich erwarte, dass–«
»Ich verbinde Sie mit Genossin Doktor Piechkow«, erklang es unverbindlich von Fräulein Sonne. Die Anstaltssekretärin hielt es wohl nicht für nötig, sich von einem Major der Volkspolizei Vorhaltungen machen zu lassen.
»Piechkow.«
Schüttau wiederholte seine Worte, wenn auch etwas weniger scharf.
»Ach, das überrascht mich.«
»Sie scheinen über die Vorgänge in Ihrem Haus nicht umfassend im Bilde zu sein.«
Zu Schüttaus Überraschung reagierte die neu ernannte Leiterin der Psychiatrie mit einem kurzen Lachen und erklärte: »Manchmal scheint es, dass die Angestellten schwieriger zu händeln sind als die Patienten, Major Schüttau. Ich werde Rücksprache nehmen und Sie umgehend informieren, wenn ich Ihnen Doktor Kaltenbrunns derzeitigen Zustand und seinen genauen Aufenthaltsort mitteilen kann. Auch ich habe meine Anweisungen, wie Sie sich vielleicht denken können.« Sie war wieder ernst. »Allerdings müssen Sie genauso verstehen, dass das Verhalten Ihres Oberleutnants hier nicht gerade förderlich für die Art unbürokratischen Entgegenkommens gewesen ist, das Sie von meinen Angestellten erwarten.«
Schüttau rollte mit den Augen. Dass Keller die Anstaltsmitarbeiter vor den Kopf gestoßen hatte, konnte er sich lebhaft vorstellen. Spätestens nachdem einer von ihnen tot auf dem Pflaster vor dem Klinikgebäude gelandet war, kursierten dort sicherlich nicht die freundlichsten Ansichten über den ermittelnden Oberleutnant aus Leipzig und die VP im Allgemeinen.
»Und Sie werden verstehen, dass die Ansichten Ihrer Angestellten einer Mordermittlung nicht im Weg stehen können. Ich rate Ihnen dringend, dafür zu sorgen, dass mein Mann noch am heutigen Vormittag Zugang zu Kaltenbrunn erhält.«
Piechkow blieb unverbindlich, versicherte zu tun, was sie könne, und beendete das Gespräch, ohne den Major noch einmal zu Wort kommen zu lassen.
Schüttau war noch immer in Gedanken versunken, als Kohn in seinem Büro erschien. Der junge Mann hielt eine Tasse in der Hand, die er mit einem bescheidenen Lächeln seinem Vorgesetzten servierte. Innerlich schüttelte der Major sich, er konnte diese Neulinge nicht leiden, die glaubten, fehlendes Können und Erfahrung durch Gefälligkeiten wettmachen zu können. Bei Keller wusste er wenigstens gleich, dass der etwas Bestimmtes von ihm wollte, wenn er Semmeln aus der Kantine anschleppte.
»Woran arbeiten Sie denn gerade, Kohn? Sie könnten Oberleutnant Keller–«
»Ich nehme für Leutnant Schnetz Zeugenaussagen zum Stellwerk-Raub auf, Genosse Major«, kam blitzartig zurück.
Schüttau winkte ab. Es war wahrscheinlich sowieso nicht die beste Idee, Keller auch noch mit Obermeister Kohn zu belasten. Das grelle Schellen des Fernsprechers beendete ihr Gespräch. Weil der Obermeister neugierig in Hörweite stehenblieb, schloss Schüttau die Tür seines Dienstzimmers, bevor er den Hörer abhob. Es fiel ihm schwer zu glauben, dass dies bereits der Rückruf aus Waldheim sein könnte, aber er wollte sicher sein, dass Kohn seine Nase nicht in Dinge steckte, die ihn nichts angingen. Schüttau wurde bewusst, dass er dem vor zwei Wochen nach Leipzig versetzten Obermeister nicht recht traute.
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