Ich bin wohl eingeschlafen , murmelte Tobias, während er sich seine schwarze, rechteckige Hornbrille aufsetzte.
Wie spät ist es jetzt? Gegen ein Uhr, entgegnete Klara.
Gut, damit bei uns also gegen 10 Uhr, konstatierte er.
Was hältst du davon, wenn wir in Port Louis heute gemeinsam zu Mittag essen? Danach könntest du einen kleinen Spaziergang durch die Stadt oder am Strand machen und ich gehe in das Internetcafe für ein bis zwei Stündchen? Klara war einverstanden. Hoffentlich würde es mit einer Stunde Internetcafe getan sein und sie könnten im Anschluss gemeinsam durch Port Louis schlendern. Die Anlage von Marie und John verfügte über keine ausreichend schnelle Internetverbindung zum Verschicken großer Datenmengen. Das hatte Klara vor ihrer Anreise in Erfahrung gebracht. Glücklicherweise war die Hauptstadt Port Louis mit wenigen Kilometern Entfernung per Taxi auf die Schnelle erreichbar und Tobias hatte sich unmittelbar nach ihrer Ankunft eines der von Klara recherchierten Internetcafes ausgesucht, das seine Belange für die Abstimmung mit den Kollegen bezüglich des Angebots abdeckte. Dort hatte er bereits mehrere Stunden die letzten beiden Tage zugebracht. Den restlichen Teil der ersten Woche würde es so weitergehen, mutmaßte sie. Obwohl sie sich eingestehen musste, trotz andersartiger Vorsätze, mit den gegen ihren Willen auferlegten Umständen zu hadern, bewunderte sie Tobias für seine Disziplin und Energie, mit der er die Aufgabe anging, freilich befeuert durch seine feste Entschlossenheit, die nächst höhere Karrierestufe schon bald zu erklimmen. Klara selbst hingegen hatte sich die letzten beiden Tage häufig außer Stande gesehen, klare Gedanken zu fassen. All die über die letzten Monate in ihr angesammelte Müdigkeit, sei es befördert durch die herrschende Hitze und Luftfeuchtigkeit, trat nun zu Tage. Andererseits stand sie in einem gänzlich anderen Verhältnis zu ihrer Berufstätigkeit als Tobias. Für sie war ihre Einkäuferinnentätigkeit in einem Großunternehmen trotz mancher Überstunden und ihrem anflugweisen Stolz über das von ihr verantwortete Einkaufsvolumen klar von ihrem Privatleben getrennt. Bei Tobias, fand sie, waren die Grenzen zwischen Beruflichem und Privatem immer mehr dabei zu verwischen. Neuerdings hatte sie ihn darauf anzusprechen gesucht, bedingt durch die für sie verstärkt wahrnehmbaren Auswirkungen auf ihr Zusammenleben. Sie empfand ihre Beziehung als zunehmend versachlicht und geschäftsmäßig. Auch bekam ihr immer weniger das wöchentliche Alleinsein. Sie verspürte eine sich steigernde Unruhe an den Tagen ihres Strohwitwendaseins, die sich erst kurz vor seiner Rückkehr wieder legte. Ihre bislang dahin gehenden Gesprächsversuche, so musste sie sich im Nachhinein eingestehen, waren allerdings von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen. Statt ruhig und gelassen ihre Wahrnehmungen darzulegen, um danach Tobias‘ Meinungen und Vorstellungen anzuhören, hatte sie ihn zu einer hitzige Diskussion getrieben. Dabei wusste sie doch aus ihrer nun rund dreizehnjährigen Beziehung, dass er diese Art der Auseinandersetzung nicht vertrug. Klara biss sich beim Gedanken an die zurückliegenden Streitigkeiten auf die Lippen und nahm sich vor, beim nächsten Gesprächsversuch klüger vorzugehen, als das Taxi vor dem Restaurant Keg and Marlin im Hafen von Port Louis hielt. Beim Betreten des Restaurants wurde das Paar von einem hochgewachsenen, dunkelhäutigen Kellner freundlich empfangen und sogleich auf die Veranda geführt. Hier herrschte Hochbetrieb. Sogleich schüttelte Klara ihre trübseligen Gedanken ab und musterte neugierig die Gäste. Es bot sich ihr eine ethnische Vielfalt, wie sie in Deutschland nicht anzutreffen war. Neben Englisch und Französisch meinte sie Hindi und Chinesisch zu hören, zumindest legten die farbprächtigen Saris der beiden Frauen am runden Nebentisch und die schlitzen Augen der vor ihnen sitzenden Herrengruppe in dunklen Anzügen diese Sprachen nahe. Tobias hatte sich schon in die ihm vom freundlichen Kellner gereichte Speisekarte vertieft. Kaum hatte sie selbst die Karte geöffnet, schlug er Speisen vor. Er scheint es wirklich sehr eilig mit dem Essen zu haben, dachte sie missbilligend.
Danke, ich schaue mir die Karte selbst an , erwiderte sie kühl, ohne ihn dabei anzublicken.
Such‘ du nur schon einmal einen Wein aus. Tobias wehrte ab. Wein käme für ihn zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht in Frage, schließlich wäre da die Hitze und die noch vor ihm liegende Arbeit. Klara rümpfte verdrießlich die Nase. Natürlich handelte Tobias seinerseits in gewohnt vernünftiger Weise, aber es widersprach ihrer Vorstellung von einem entspannten Mittagessen im Urlaub.
Dann bestelle ich mir eben ein Glas , ließ sie es damit bewenden. Während des Essens nur schleppende Konversation. Nach der Bestellung hatte sie Tobias in betont heiterem Ton auf die verschiedenartigen Tischgesellschaften hingewiesen. Insbesondere ließ sie ihn von ihrer Faszination bezüglich der hinduistischen Frauen am Nebentisch wissen, ihre prächtig farbfrohen Gewänder, das reichliche Gold auf dunkler Haut hatten es ihr angetan. Tobias Blick war amüsiert über die Gäste gelitten. Wie ethnisch vielfältig die mauretanische Gesellschaft sei und wie ungewöhnlich viele gut aussehende Menschen es in diesem Land gebe, wäre ihm schon im Internetcafe aufgefallen. Kaum standen jedoch die Speisen vor ihnen auf dem Tisch, wandte er sich vorwiegend dem Essen zu und wurde einsilbig, den Kopf offenbar schon bei dem Angebot oder seinen Kollegen. Alsbald gab Klara ihre Gesprächsbemühungen auf. Besser sich an der kreolischen Hühnerbrust erfreuen, besser den Ausblick über den Hafen genießen, sagte sie sich. Es herrschte kaum Betrieb auf dem Wasser. Das Farbspiel aus türkisgrünem Wasser und einem Himmel von sattem Blau, geschmückt mit tief ziehenden Wolken wie aus Zuckerwatte, zog sie in seinen Bann. Schau doch wie schön, appellierte sie innerlich an ihr Gegenüber, ohne es auszusprechen. Beim Kaffee angelangt, war es nun Klara, die die Eile überkam. Der zähen Unterhaltung überdrüssig und begierig auf einen Stadtrundgang nach dem Mittagessen, bat sie Tobias ihr eine Textnachricht zu schreiben, sobald er wieder zur Verfügung stehen würde. Ein flüchtiger Abschiedskuss, dann teilten sich ihre Wege vor dem Restaurant. Klara wandelte die lebhafte Hafenpromenade entlang, vorbei an zahlreichen Malls, Restaurants und Cafés. Das bunte Völkergemisch, wie bereits im Keg and Marlin von ihr beobachtet, war allerorts zugegen. Sie verließ die schattenspendenden Arkaden der Promenade und wanderte stadteinwärts auf der Suche nach den Markthallen. Sie galten einen Besuch wert. Ohne schattenspendenden Schutz lastete mit einem Mal die ganze Hitze des Nachmittags auf ihr. Das zum Rossschwanz gebundene schulterlange Haar, das dünne Sommerkleid mit Spaghettiträgern halfen nicht. Schweiß rannte ihr den ganzen Körper entlang. Schon bereute sie ihren vorherigen Drang, unbedingt Wein zum Essen trinken zu müssen. Natürlich war ihr der Alkohol bereits zu Kopf gestiegen, natürlich machte er es ihr nunmehr schwerer, mit der tropischen Hitze klarzukommen. In den eisernen Markthallen, die sie durch ihre unmittelbare Nähe zum Hafen auf Anhieb fand, empfing sie nun noch mehr schleimige Hitze, Gedränge und Lärm. Klara rang nach Luft, kurzweilig überkam sie Schwindel. Sie suchte, einige Minuten abseits der Menge, still auszuharren und ruhig und tief die schwere, modrige Luft ein- und auszuatmen, bevor sie in den Menschenstrom eintauchte und sich von ihm treiben ließ. Aufgetürmtes Obst und Gemüse, bekannt und unbekannt, teils frisch, teils weniger, gerupfte Hühner, Gewürze, Reissäcke, Blumensamen, bunte Stoffe, billige Textilien, dunkle und helle Körper, Saris, Turbane, westlich Gekleidete, Marktgeschrei. Wären da nicht das im Magen liegende Mittagessen und die Hitze gewesen, hätte sie gerne einen der vielen, angebotenen Imbisse probiert. Was das Kulinarische betraf war Klara stets experimentierfreudig, sowohl auf ihren Reisen als auch zu Hause. Ob roher Fisch, Innereien, gegrillte Insekten, Hühnerbeine, Klara war willens nahezu alles, zu probieren. Kochen zählte für sie zu ihren Lieblingswochenendbeschäftigungen, gerade in der Winterzeit, wenn die Tage dunkel und kurz waren. Sie mochte es, bereits mittags in der Küche zu stehen, stets das Radio laut aufgedreht, Gemüse zu putzen und zu schnipseln, Fleisch lange zu schmoren und Soßen einzukochen. All das verschaffte ihr Entspannung. Ferner entdeckte sie hierbei eine Kreativität an sich selbst, an der es ihr sonst im Alltag mangelte. Tobias meinte nicht selten scherzhaft, eine wahre Köchin wäre an ihr verloren gegangen. Unbedingt musste sie diesen Markt, in den kommenden Tagen ohne vollem Bauch erneut aufsuchen. Die gefüllten Fladenbrote und Frühlingsrollen sahen sehr verlockend aus, auch von den Currys würde sie unbedingt kosten müssen. Bestimmt würde auch Tobias daran Gefallen finden. Wenngleich ihn manchmal der Mut beim Probieren verließ, mochte er die kreolische und asiatische Küche. Als sie aus den Markthallen heraustrat, erschien ihr die Luft geradezu frisch. Sie prüfte ihr Handy. Es war mittlerweile gegen vier Uhr nachmittags, eine Nachricht von Tobias fehlte bisweilen. Zum Zeitvertreib setzte Klara ihren Rundgang fort. Sie entdeckte einige Kolonialbauten, teils herausgeputzt, teils verfallen sowie das Durcheinander der vielen modernen Hochhäuser aus Beton. Mangels weiterer Attraktionen fasste sie jedoch schon bald den Entschluss, zum Hafen zurückzukehren. Dort wollte sie in einem der Cafes auf ein Zeichen von Tobias warten. Schließlich, gegen sechs Uhr, die Sonne stand schon tief am Himmel und tauchte die Hafenpromenade in mildes Himbeerlicht, Klara saß bereits vor ihrem zweiten Joghurtgetränk, erreichte sie seine Mitteilung. Mit Erleichterung las sie seine Nachricht, in der er zu einem gemeinsamen Drink anregte, hatte sie doch zwischenzeitlich mit dem Gedanken gekämpft, alleine ins Ressort zurückzukehren. Lediglich die Hoffnung auf einen gemeinsamen Abendausklang in Port Louis, wenngleich stetig schwindend, hatte sie von der sich immer weiter aufdrängenden Idee abgehalten.
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