Matthias Sprißler - Essays
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Matthias Weingarten
Essays
Realitäten
Essays
Matthias Sprißler (Weingarten)
Text und Gestaltung:
Copyright © 2016 Dr. Matthias Sprißler
Verlag: Dr. Matthias Sprißler, Tübingen, www.sprissler.org
Druck: epubli ein Service der neopubli GmbH, Berlin
ISBN
Umschlag, Fotos und Grafiken: Autor
Umschlagfoto: Schottland
Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind, sofern es keine Personen der Zeitgeschichte sind, rein zufällig.
Ähnlichkeiten
Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind rein zufällig.
Dieser Satz findet sich, meist klein gedruckt, in vielen Büchern. Mal ganz vorn, mal im Nachwort. Und dennoch suchen die Leser regelmäßig fast verzweifelt und akribisch nach Ähnlichkeiten. Wer konnte der Figur Pate gestanden haben? Wer hat den Autor inspiriert? Wer könnte Modell gesessen sein? Kenne ich sie oder ihn? Oder will sich der Schreiber gar mit einer prominenten Person beschäftigen? Hat er den Satz nur drucken lassen, um sich vor denen zu schützen, die sich gern beschrieben sehen würden? Oder will er sich nur formal vor denen absichern, die er ganz bewusst ausgesucht und etwas verfremdet hat?
Die Antwort ist einfach: Nichts ist unmöglich, alles ist denkbar. Wer meint, sich oder einen anderen zu erkennen, sei es als Inspiration, sei es als Abbild einer Romanfigur, wird immer eine Gemeinsamkeit finden. Wer über seine Mitmenschen gut denkt, wird sich geehrt fühlen: Der Autor denkt an ihn und er sieht ihn als einen Menschen mit Ecken und Kanten, mit Licht und Schatten, nicht als eine von vielen grauen Mäusen. Wer dagegen ohnehin bereits mit sich und der Welt hadert, für den mag es Anlass zu neuem Ärger sein, auf den es dann aber auch nicht mehr ankommt.
Wer aber ganz sicher sein möchte, dass er sich an keiner Stelle meint erkennen zu müssen, der belässt es am besten beim Blick auf das Cover und stellt das Buch ins Regal zurück. Neugierde ist für ihn ohnehin ein Fremdwort.
Sollte auch nach diesen Sätzen noch Unsicherheit bestehen, so sei zur
Entscheidungsfindung folgendes verraten: Die Phantasie des Autors reicht nicht zur
Schaffung reiner Phantasiefiguren. Er möchte auch gar nicht über Aliens im Ufoanflug auf
Mutter Erde schreiben. So gibt es zwei Typen: Zum einen der Protagonist, der einer realen Figur in einigen Bereichen und Wesensarten nachempfunden ist und zum andern die primär der Phantasie entsprungene Figur, die - für den Leser kaum erkennbar - mit einzelnen Erscheinungsformen oder Charakterzügen dem Autor bekannter Menschen versehen ist, wobei die Person selbst mit der Geschichte aber nichts gemein hat.
Also - fast - alles - fast - zufällig.
Affe
Wer in Straßburg das Münster sucht, muss entweder den Besucherströmen oder seinem Stadtplan folgen. „Auf Sicht“ geht nicht. Erst wenige Meter vor dem Portal wird die Fassade sichtbar, als Bollwerk am Ende der Straße. Unzählige Versuche, die Fassade in ihrer Gesamtheit unverzerrt aufs Celluloid zu bannen oder in Pixel zu verwandeln, sind zum Scheitern verurteilt.
Ganz anders: Salisbury, das mittelalterliche Sarum, im Süden Englands. Auch hier führen die Straßen zur Kathedrale. Nach Passieren des letzten Hauses weitet sich der Blick: Die Kathedrale ruht im Grünen, vom Portal bis zur Turmspitze, von der Eingangsrosette bis zur Apsis in ihrer Ganzheit wahrnehmbar. Umgeben von grünem Rasen und alten Bäumen, ein Kontrast aus spitzen Bögen und Stein. Ein zum Himmel strebendes, harmonisch-geformtes Bauwerk, errichtet vor bald 1000 Jahren auf den Säulen der Erde. Umgeben von einem vielfach größeren cathedral close, einer Klosterbezirk genannten grünen Oase, der Domfreiheit. Das Gotteshaus im Paradies.
Im Paradies lebten die ersten Tiere. Zumindest ein Affenpärchen überlebte auch die Sintflut. Und nach der Beschreibung soll ein mit britischem Humor gesegneter Baumeister einen solchen Affen in der Kirche angebracht haben. Mit einer typischen Handbewegung: Kokosnusswerfen. Doch er hat sich im paradiesischen Dschungel gut versteckt, zwischen Heiligen und Helden, Säulen und Bögen. Erst eine freundliche Mitarbeiterin der Kirche kann den Besucher ans Ziel führen: Über dem Eingang zur Sakristei, vielleicht drei oder vier Meter über dem Boden, sitzt er tatsächlich, vor der Messe, in der Messe und nach der Messe: Der Affe mit der Kokosnuss. (2014)
Allerseelen
Die Dämmerung kriecht ins Tal. Erst langsam, dann immer schneller, unaufhaltbar. Berge und Tal verschmelzen zur Dunkelheit. In den Fenstern der Häuser gehen die Lichter an, Lichter im Leben. Orange Strahler werden eingeschaltet und langsam heller. Dann erstrahlen Fassaden von Burg und Kirche. Die Kirche selbst ist dunkel. Nur ein ewiges Licht schimmert durch das Fenster.
Vor der Kirche Kieswege. Dazwischen weiße Grabsteine. Steine mit Namen, Zahlen, Bildern. Steine als Bericht über verflossenes Leben. Steine der Erinnerung.
Hinter der Kirche nachtgrüner Rasen. Dazwischen zahllose Kreuze. Schwarze Kreuze aus Metall. Im Feuer geschmiedet für die Nachwelt, für die Ewigkeit. Kreuze in unterschiedlichen Kreuzformen. Kreuze in Strahlenform. Verzierte Kreuze, scharf gezeichnet vor dem nachtblauen Himmel. Himmel mit der Resthelligkeit der Vergangenheit, Resthelligkeit der hier schon untergegangenen Sonne. Einer Sonne, die nicht untergeht. Die morgen wieder aufgehen wird. Die untergeht und zugleich aufgeht. Die die Dunkelheit wieder durch Licht ersetzt. Tod durch Leben.
Den ganzen Tag zuvor waren die Lebenden bei den Toten. Haben am Grab gearbeitet. Für irdische Ordnung am Tor zum Jenseits. Für Schmuck gesorgt für diejenigen, die ihn nicht mehr benötigen. Aber die Lebenden brauchen ihn, zum Zeichen des Gedenkens, zum Ausdruck von Dankbarkeit.
Sie haben kleine und große Lichter aufgestellt, Kerzen in weißen und roten Gläsern. Zum Abschluss ihrer sorgenden Mühe haben sie die Kerzen angezündet. Ohne ihren Schein zu sehen, bei Tageslicht, zeitig vor dem Vesper, dem Besuch des Gasthofs, der ruhelosen Rückkehr ins rastlose Reich der Lebenden.
Doch nun ist es dunkel. Außerhalb des Friedhofs. Denn dort leuchten sie nun, hunderte Kerzenlichter in weißem und rötlichem Licht. Vier, fünf oder mehr Lichter auf jeder der kleinen Grabstätten. Jedes Licht eine Verbindung des Toten zu einem noch Lebenden. Sie leuchten in die Nacht, machen die Kreuze sichtbar. Sie leuchten allein, die Lebenden sind schon weg. Sie haben keine Zeit, das Zeichen der Hoffnung, das helle Licht in der dunklen Nacht zu sehen. In der Nacht von Allerheiligen auf Allerseelen.
(2013)
Arbeiter im Weinberg
Ein Vater hatte zwei Söhne und besaß einen Weinberg. Vor Jahren schon hatten die Söhne den Gutshof verlassen. Früher jedoch, als sie noch jung waren, mussten beide mitarbeiten, wenn es darum ging, für die Zukunft einen neuen Weinberg anzulegen. Er hatte die Söhne seinerzeit gerecht entlohnt. Unterschiedlich, aber doch gerecht. Zumindest wollte er sie gerecht bezahlen.
Wenn der Vater viele Jahre später, nun schon als weiser Greis, auf die Zeit zurückblickte, in der beide Söhne im Weinberg gearbeitet hatten, vermeinte er jedoch ein Rumoren in seinem Gewissen zu verspüren.
Nun, im hohen Alter, gestand er sich ein, dass beide mit ihrer Arbeit die Grundlage für gute Weinlesen gelegt hatten. Er konnte, wenn er das Etikett auf den Flaschen, die ihm der Kellermeister brachte, nicht betrachtete, selbst nicht mehr unterscheiden, aus wessen Sohnes Pflanzungen der gleichermaßen edle Tropfen stammte. Die Arbeit der Söhne hatte, wie er nun erkannte, denselben Wert gehabt.
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