Matthias Weingarten
Der
Kinderdieb
Texte/Fotos: © Copyright by Matthias Sprißler
Umschlaggestaltung: © Copyright by Matthias Sprißler
Verlag: Dr. Matthias Sprißler,
Doblerstraße 14, 72074 Tübingen
Info-sprissler@t-online.de - www.dr-sprissler.de
Druck: epubli, ein Service der neopubli GmbH, Berlin
Geschichte und die Personen sind frei erfunden, ebenso der Ort Forellenhof. Soweit die Handlung an realen Orten spielt, sind diese ohne Realitätsbezug gewählt. Ähnlichkeiten mit realen Personen oder Namen sind zufällig.
Inhalt
Prolog
Ellwangen, Juli 2007
Malcesine, September 2013
Bardolino, September 2013
Ellwangen, Herbst 2013
Stuttgart, Dezember 2013
Ellwangen, Februar 2014
Forellenhof, Juni 2014
Kripo Ellwangen, Juni/Juli 2014
A 8, Juni 2014
Ellwangen, Juli 2014
Landgericht Ellwangen, Juli 2014
Stuttgart/Remstal, Juli 2014
Stuttgart – Ellwangen, Juli 2014
Ellwangen, Frühjahr 2015
Meran, Pfingsten 2015
Nachwort
Die Zelle
Aktenzeichen 23 Js 144/14
Amtsgericht Ellwangen
Haftbefehl vom 30. Juni 2014
Im Ermittlungsverfahren gegen den Beschuldigten
wird gem. §§ 112 Abs. 1 und 3, 114, 125 StPO die Untersuchungshaft dieses Beschuldigten angeordnet.
Er steht im dringenden Verdacht, ein Gebäude, das der Wohnung von Menschen dient, in Brand gesetzt und dadurch den Tod eines anderen Menschen verursacht zu haben, indem er am 30.6.2014 gegen 0.30 Uhr in Scheune und angrenzendem Wohnhaus des Forellenhofs im Kinzigtal mittels eines Brandbeschleunigers Feuer gelegt und dadurch den Hof zerstört und die dort als Urlauberin schlafende vierjährige Helen Gärtner getötet hat,
strafbar nach §§ 211, 306 a, 306 c, 52 StGB.
Der dringende Tatverdacht stützt sich auf das Ergebnis der bisherigen Ermittlungen der Polizeidirektion Aalen, Kriminalinspektion Ellwangen, insbesondere den Ermittlungsbericht von EKHK Peter Lowinger.
Maier
Richter am Amtsgericht
Wie oft in dieser Nacht hatte er diesen Haftbefehl nun bereits gelesen? Er wusste es nicht mehr. Das einzige, was er noch wusste, war, dass er vor wenigen Minuten aus einem kurzen, wohl nur wenige Sekunden dauernden Erschöpfungsschlaf aufgeschreckt war, als er plötzlich hellen Feuerschein zu sehen glaubte. Der Schein eines hell lodernden Feuers, des Feuers eines Großbrandes. Er zitterte am ganzen Körper. Es war nur ein geringer Trost, dass ihm nach dem Aufschrecken schnell bewusstwurde, dass er kein Feuer sah; es war nur das helle Neonlicht seiner fensterlosen Zelle, das einmal pro Stunde kurz aufflackerte, um den Vollzugsbeamten einen Kontrollblick durch den Türspion, der hier von außen nach innen funktionierte, zu ermöglichen.
„Wir stecken dich vorsorglich in eine Zelle ohne Fenstergitter, sicher ist sicher“, waren die letzten Worte des Beamten gewesen, bevor er am Abend die Zelle verschlossen hatte. Seither war er allein mit sich. Er fühlte sich verlassen und ausgeliefert. Raum- und Zeitgefühl schwanden mehr und mehr. Drei identische Wände, je zehn Fuß lang, wie er vorhin ausgemessen hatte. Die vierte Wand unterschied sich durch die darin befindliche stahlgraue Metalltüre mit dem Spion und einer Klappe, durch die ihm am Abend noch zwei Scheiben Brot, eine Scheibe Fleischkäse und zwei Essiggurken zusammen mit Aluminiumteller und -becher gereicht wurden. Alles steril und nicht entflammbar: Außer dem Geschirr auch die Chromarganliege mit einer teflonumhüllten Matte, die sich anfühlte, wie wenn sie mit Metallputzschwämmchen gefüllt wäre, das Edelstahlwaschbecken mit dem kleinen Hinweisschild „Trinkwasser“ und dem deckel- und randlosen Edelstahl-WC, neben dem sich abgezählt drei feuchte Papiere befanden. Im Laufe der Nacht hatte er dann auch die Zusammenhänge begriffen: Seine seit Abgabe des Gürtels fortwährend rutschende Hose, das mangels Fenster fehlende massive Fenstergitter und die periodische Kontrolle konnten nur bedeuten, dass sie von Suizidgefahr ihres Häftlings ausgingen.
Es war ihm rätselhaft, wie sie zu dieser Annahme kommen konnten. Noch nie in seinem über vierzigjährigen Leben hatte er ein Gefängnis von innen gesehen. Und sich selbst zu erhängen? Eine abwegige Überlegung. Er. Er, der stets den Freuden des Lebens zugeneigt war. Wahrscheinlich würden sie das bei jedem Häftling seines Alters so anordnen. Sicher, seine Lage war mehr als schlecht. Katastrophal. Aber aufgeben? Keine Sekunde seiner bisherigen Haftzeit von gefühlt einem Jahr, gemessen sieben Stunden und achtundzwanzig Minuten, war ihm ein solcher Gedanke bisher gekommen. Er hatte in seinem Leben schon manche Niederlage erlitten, war zu kämpfen gewohnt. Auch hier und jetzt würde er kämpfen, seine Unschuld beweisen, die Missverständnisse, um die es sich handeln musste, aufklären. Schon in wenigen Stunden würde er Dr. Franz Felsle, dem besten Verteidiger der Stadt gegenübersitzen, einem Anwalt, der ihn schon seit vielen Jahre kannte und schon manches Mal bestens beraten hatte….
2
Vergangenheit
Richard und Stefanie Gärtner saßen auf dem vor wenigen Tagen erstandenen schwarzen Ledersofa einer am Ostrand des Schwarzwaldes residierenden Designerfirma. Auf dem kubistischen Glastisch vor Ihnen standen zwei große Kelchgläser, in denen jeweils zwei Finger hoch ein italienischer Rotwein seinen warmen Duft verbreitete. Heute Morgen waren sie, beide nun schon 32 Jahre alt, zur Trauung im Standesamt gewesen. Im Anschluss an diese Beurkundung ihrer schon seit zwei Jahren bestehenden eheähnlichen Beziehung hatte es noch ein gemeinsames Mittagessen mit Eltern und Geschwistern gegeben. Das große Fest war für den Tag der kirchlichen Trauung vorgesehen, die Ende des Monats in der hoch über der Stadt thronenden barocken Wallfahrtskirche Schönenberg stattfinden sollte. Der Schwager von Richard, Tobias Hafner, der Mann seiner fünf Jahre jüngeren Schwester Monika und erst seit einigen Wochen Standesbeamter der ostwürttembergischen Kleinstadt Ellwangen, hatte die Trauung persönlich übernommen. Die kurze Ansprache war genau nach Stefanies Geschmack gewesen. Nicht zu schwülstig, sachlich, aber auch feierlich. Hafner, dessen Familie seit Generationen in Ellwangen lebte, strahlte Ruhe und Vertrauen aus. Die Trauung war auch für ihn nicht alltäglich gewesen; nicht nur, dass sein Schwager den Bund fürs Leben schloss, auch zur Großmutter der Braut hatte eine enge Beziehung bestanden, nachdem sich die beiden Großmütter als Kriegerwitwen in schwierigen Zeiten gegenseitig Hilfe und Halt gewesen waren.
Nun saßen sie hier und blätterten gemeinsam Stefanies Fotoalbum durch. Auf einer Seite war ein großes Bild ihrer Großmutter zu sehen. Es war eine würdevolle ältere Dame, weißlich graues Haar, Brille, ganz in schwarz, weiß und grau gekleidet. Richard hatte sie zwar nicht mehr als Stefanies Großmutter in Erinnerung; sie war bereits verstorben, als er Stefanie näher kennengelernt hatte. Aber an ihren Anblick erinnerte er sich aus Kindheitstagen, als er noch mit seinen Eltern jeden Sonntag in der Kirche verbrachte. Die ältere Dame gehörte nicht zur Gruppe frömmelnder Betschwestern, deren Auftritt mehr Selbstdarstellung denn Andacht war. Sie kam aufrechten Gangs daher, ohne Leidensausdruck oder Bitterkeit im Gesicht und vermittelte dem Betrachter stets das Antlitz der Würde. Wahrscheinlich hatte er sogar unbewusst Stefanie schon zu jener Zeit einmal gesehen, da die Frau gelegentlich ein mutmaßliches Enkelkind bei sich hatte. Vom Stammplatz seiner Eltern aus im Querschiff vor dem Abgang zur Krypta der romanischen Stiftskirche St. Vitus hatte er stets einen unverstellten Blick zu Stefanies Großmutter in einer der ersten Reihen des Hauptschiffs, direkt unterhalb einer der mächtigen barocken Apostelstatuen.
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