„Sieht gut aus, die Studentin am Nebentisch“, hörte er Stefanie sagen, „aber zu jung für Männer Ende Dreißig!“ Studentin hatte sie gesagt? Hatte sie nicht erkannt, dass dort drei Entführer saßen? Hatte sie ihren Verstand und ihre sonst selbst im letzten Dienstzeugnis positiv erwähnte überdurchschnittliche Auffassungsgabe im Hafen von Livorno zurückgelassen?
„Bist du verrückt? Es geht doch um Helen! Lass uns gehen, wir müssen zurück ins Zimmer!“ Noch während der letzten Worte riss er Helen fast aus dem Hochstuhl, warf seine Serviette auf den noch halb vollen Vorspeisenteller und begann zum Zimmer zu hasten. Stefanie blieb nichts Anderes übrig, als voller Wut und sich fragend, ob ihr Mann gerade übergeschnappt wäre, hinter den beiden herzueilen und den verlorenen Stoffelefanten mitzunehmen, der Helen auf Höhe des Nebentisches aus dem kleinen Händchen gefallen war. Der junge Mann hatte sie mit einem Handzeichen darauf aufmerksam gemacht. Den ratlosen Blicken der Dreien am Nebentisch konnte sie aber nur noch ein entschuldigendes Lächeln und Achselzucken zukommen lassen.
Richard zog sie förmlich den letzten Meter durch die Tür des Hotelzimmers, schlug die Tür ins Schloss und drehte den Schlüssel gleich zweimal.
„Hier ist Dein Fant, Helen,“ flüsterte Stefanie. „Der nette Student vom Tisch nebenan …. Noch bevor sie den Satz vollenden konnte, fiel ihr Richard hastig ins Wort: „Netter Student sagst Du, hast Du den Verstand verloren? Die wollten unsere Helen entführen! Der …“
„Richie, ich weiß, Du hattest zuletzt viel Stress an Deiner Schule. Die beiden Vertretungsstunden an Deinem freien Tag …“
„Ach was, darum geht’s doch nicht. Hast Du nicht ihre Blicke beobachtet? Sie hatten die Zeitung vom Anreisetag mit der Reportage zum Jahrestag des in der Ferienanlage entführten Mädchens dabei. Und Du selbst hast doch gesagt, sie hätten auch schon Helens Fant an sich genommen. Das ist doch eindeutig und …“
„Richie, Richie, hör auf! Niemand hat den Fant weggenommen …“
„Jetzt lüg mich nicht an“, schrie Richard außer sich vor Erregung. „Gerade eben hast Du, ja Du selbst, es mir gesagt. Ich brauche kein Beruhigungsgeschwafel. Ich kämpfe. Für das Leben meiner Helen, und für ihre Freiheit. Los, wir packen und reisen ab, bevor es zu spät ist!“
„Aber Richie, es ist halb neun Uhr, wo willst du hin?“
„Wir fahren nach Hause. Sofort, Du packst. Gib mir das Handy, ich rufe der Fährgesellschaft an.“
Die Augen von Richard sprachen in diesem Augenblick eine deutlichere Sprache als seine Worte. Stefanie wusste, dass jeder Widerspruch sinnlos war und seine panische Hysterie nur steigern würde, ihn vielleicht gar unberechenbar werden ließ.
Während sie wahllos das Gepäck zusammenraffte, hörte sie ihren Mann am Telefon etwas von einem kranken Kind erzählen. Kurz darauf brachte er das Handy zurück, die Angst aus seinen Augen war gewichen. „Alles im Griff, wir fahren morgen früh 6 Uhr ab Golfo Aranci, Express-Strecke nach Piombino, dort Ankunft 10.30 Uhr. Morgen Abend sind wir zu Hause und die Gefahr wird gebannt sein.“
„Piombino? Wir sind doch ab Livorno gefahren. Wo bitte liegt Piombino?“
„Toskanisches Festland, gegenüber Elba. Etwa eineinhalb Autostunden südlich Livorno, wo die reguläre Fähre erst am Abend ankommen würde.“
Kurz darauf hatte er an der Rezeption ausgecheckt, den Hinweis auf die Nichtrückzahlung des restlichen Preises mit einer Handbewegung als nebensächlich akzeptiert und war dann zu einer Nachtfahrt durch Sardiniens Norden aufgebrochen. Wirkte das Valle di Luna, das sie zunächst zu durchqueren hatten, schon bei Tag wie ein vergessenes Stück Erde, umgeben von kahlen aber imposanten Felsbergen, übersät mit Gesteinsbrocken, wie die Kraterlandschaft des Mondes aus der ersten Liveübertragung einer Mondlandung, so war die Fahrt bei Nacht geradezu gruslig. Jede der vereinzelt stehenden krummen Korkeichen schien im Lichtkegel der Scheinwerfer zum Leben zu erwachen. Ihre Äste streckten sich dem Wagen entgegen, wie wenn sie ihn ergreifen wollten. Die ersten dreißig Minuten sahen sie kein anderes Fahrzeuglicht, danach bog von rechts ein Fahrzeug ein, das ihnen nun in gleichbleibendem Abstand folgte.
„Ein Pickup, Stefanie“, schrie Richard.
„Entweder zu viele Aufträge oder Schwarzarbeit, der Herr Handwerker, Schwarzarbeit in schwarzer Nacht“, entfuhr es Stefanie und sie bereute ihre Anmerkung sogleich wieder, als sie Richards wirren Blick erkannte, noch bevor es mit zitternder Stimme aus ihm hervorbrach: „Sie holen sie, Stefanie, tu doch was!“
Die Rückfrage, was sie denn tun solle, erübrigte sich: Richard tat selbst etwas: Er drückte das Gaspedal durch, die Tachonadel drehte sich bis in den Bereich um 140 km/h und Richard blieb einsilbig, bis sie eine Stunde nach Mitternacht mit quietschenden Reifen vor der Zugangskontrolle am Hafen stehen geblieben waren. Richards Raserei war völlig sinnlos gewesen und hatte nur seinem Handlungsbedürfnis gedient; der Hafen öffnete erst um 5 Uhr.
*
Die Schiffsreise versprach vier Stunden Ruhe. Vielleicht, so dachte oder eher erwartete es jedenfalls Stefanie. Ihre einzige Sorge galt dem Seegang. Es kam dann aber alles anders und schneller als Stefanie sich hätte vorstellen können. Sie standen mit Helen auf Deck sieben, hatten sich dabei an die Reling gelehnt und beobachteten interessiert, wie die drei letzten Fahrzeuge von der Wartefläche über die Stahlrampe ins Schiffsinnere fuhren.
Der Ladevorgang hatte gerade einmal fünfzehn Minuten gedauert, da nur wenige Fahrzeuge zu dieser Jahres- und Tageszeit die Fähre gebucht hatten. Wie der Bauch eines Fährschiffs bei einer Großfähre siebenhundertundfünfzig Fahrzeuge aufnehmen konnte, die in das Schiff zwar gemeinsam durch das große Hecktor einfuhren, dann in dessen Inneren aber auf mehrere Decks weiterverteilt wurden, war für Stefanie ohnehin ein bisher ungelöstes Rätsel geblieben. An jenem frühen Morgen fuhr, das eine Hecktor wurde von den hydraulischen Antriebswellen bereits zur Hälfte hochgezogen, wenige Minuten vor der Abfahrt und lange nach der auf dem Ticket aufgedruckten Erscheinenszeit, noch ein weißer Lieferwagen mit der Aufschrift „prodotti sardi fresci“ vor die zweite, noch auf der Mole aufliegenden Torrampe. Das Schiffspersonal ignorierte den Wagen solange, bis sein Fahrer, groß gebaut, sonnenverwöhnte Haut, jung, Shorts und weißes Hemd, ausgestiegen war und wild zu gestikulieren begann und immer wieder in Richards Richtung auf das Schiff zeigte. Es dauerte mehrere Minuten, während denen das zweite Tor unberührt noch immer als Rampe diente, bis sich das Fährpersonal entweder überzeugen ließ oder angesichts einer halbleeren Ladefläche sich für die Mitnahme entschied; dann fuhr der Lieferwagen als letztes Fahrzeug an Bord des Schiffes, dessen Taue bereits gelöst wurden und das sich unmittelbar danach langsam in Bewegung setzte.
Stefanie sah mit Schrecken, wie in dem Augenblick, als der junge Mann mit weißem Hemd wieder den Lieferwagen bestieg, der starre, Angst einflößende Blick vom Abend zuvor in Richards Augen zurückkehrte. Dass sie daraufhin die gesamte Überfahrt in der Kabine verbrachten und nur Helen dank der Notration an Kinderkeksen in Mutters Handtasche etwas zu essen bekam, konnte sie nicht mehr überraschen.
*
Die Monate danach waren für ihre Ehe die bisher härteste Belastungsprobe. Richards starrer Blick, seine den gesamten Lebensalltag umfassenden Maßnahmen zum Schutz vor der von ihm befürchteten Entführung, wich nur aus seinem Gesicht beziehungsweise traten nur in den Zeiten in den Hintergrund, in denen er seinem Lehrerberuf an seiner Schule nachging. Dort war er offensichtlich ganz der Alte, charmant, engagiert, eine selbstsichere Lehrerpersönlichkeit, was Stefanie dem kurzen Smalltalk mit Schulleiter Bark einige Wochen nach Schuljahresbeginn in der Fußgängerzone - „Ihr Mann hat sich auf Sardinien ja prächtig erholt, wenn wir ihn nicht hätten …“ - entnahm.
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