„Natürlich“, pflichtete sie mir bei. „Und doch sollte man es im Zusammenhang sehen. Wie willst du sonst Fehler rechtzeitig erkennen und korrigieren?“
„Werd deutlicher!“, forderte ich.
Dagmar sah mich an. „Du warst in einer vertrackten Situation. Verständlich, dass man daraus entfliehen möchte. Nur besteht die Gefahr, dass man nach einer raschen Lösung sucht und die erste beste wählt, die sich bietet.“
„Es war kein Trugschluss“, behauptete ich, dachte: Du hast einen Platz gesucht, auf dem du durchhältst, wo du dich beweisen kannst. Fredi hat bloß den letzten Anstoß gegeben. „Es war meine Entscheidung“, sagte ich. „Und ich bereue sie bisher nicht.“
„Nein?“, zweifelte sie. „Du bist also ausgefüllt vom Soldatenleben?“
Sie gibt keine Ruhe, dachte ich. Manchmal will sie‘s um jeden Preis besser wissen. Warum nur? Fürchtet sie um ihr Prestige? Glaubt sie, als Medizinstudentin dürfe man sich nicht irren? „Gegen große Worte hab ich was“, sagte ich.
„Gut“, lenkte sie ein. „Also schlichter: Bist du zufrieden?“
„Wer ist das schon?“
„Du kneifst.“ Sie stieß hörbar die Luft aus. „Also noch anders: Bist du glücklich?“
„Ja“, erwiderte ich. „Durchaus.“
Da lächelte sie wie eine, die es besser weiß. „Und du bist es ganz umfassend?“
Ihre Hartnäckigkeit brachte mich auf. „Wozu das alles? So finden wir kein Ende!“
„Vielleicht ist meine Fragerei wirklich eine Marotte“, sagte Dagmar versöhnlich. „Ich hab schon meinen Vater damit genervt. Was wollte ich nicht alles erläutert haben! Er hat mir immer mit großer Geduld geantwortet. Nur einmal musste er sich tüchtig den Kopf zerbrechen. Da hatte ich ihn gefragt: Was ist Glück? Er grübelte lange, bevor er antwortete: Das zu erklären, ist schwierig. Alle möchten es finden, das Glück. Sie jagen ihm hinterher, wieder und wieder, doch nur wenige erlangen es wirklich. Ich werde darüber nachdenken. Morgen erkläre ich‘s dir.
Sicher überlegte er gründlich, trotzdem fand er keine kurze plausible Antwort wie sonst. Und so erzählte er mir ein Märchen:
Vor langer, langer Zeit lebte hinter einem großen Wald eine alte Frau mit ihrem Enkel. Sie bewohnten ein armseliges Häuschen, durch dessen rohrgedecktes Dach der Regen troff. Der Bursche arbeitete von früh bis spät auf dem kleinen Acker. Dabei musste er sich tüchtig placken; denn der Boden war steinig und unfruchtbar.
Eine Woche verging so trostlos wie die andre, nur sonntags wanderte der Bursche manchmal in ein fernes Dorf. Dort trank er im Wirtshaus einen Becher Wein, tanzte mit dem hübschesten Mädchen und war voller Freude.
Nach solch einem Ausflug sagte er zur Großmutter: ‚Es geht ungerecht zu auf der Welt. Man muss sich allzu lange schinden, um ein paar Stunden froh zu sein.‘
Die alte Frau dauerte die trübselige Stimmung ihres Enkels. Sie überlegte die ganze Nacht, wie sie ihm helfen könnte. Am nächsten Morgen sagte sie: ‚Vielleicht lässt sich deine Lage ändern.‘
‚Wie denn?‘, fragte der Bursche. ‚So sprich doch!‘
‚Was ich dir vorschlagen möchte, ist nicht ungefährlich‘, meinte die Großmutter. ‚Du brauchtest eine Menge Mut.‘
‚Daran soll‘s nicht mangeln‘, versprach der Enkel.
‚Nun gut‘, sagte die Alte. ‚Dann hör mir aufmerksam zu.‘ Und sie erzählte ihm von einer Waldfee, die tief im Dickicht eine Höhle unter einer mächtigen Eiche behause. Bei Vollmond käme sie aus ihrem Versteck, wenn man sie mit einem Sprüchlein riefe und erfüllte dem Bittenden allerlei Wünsche.
Von jener Stunde an vergingen dem Burschen die Tage zu langsam, nachts schlief er unruhig, träumte von Reichtum und Glück. Als der Mond gelb und rund am Himmel stand, machte er sich auf den Weg. Weit drang er in den Wald ein, unter seinen Schuhen barsten Zweige, raschelte Laub, über ihm flatterten Vögel, schrien gellend Käuze, um ihn funkelten die Augen von vielerlei wildem Getier. Obwohl es warm war, kroch dem Burschen Kälte über den Rücken.
Gegen Mitternacht erreichte er die mächtige, uralte Eiche und rief sogleich:
‚Waldfee mit dem Menschgesicht,
komm hervor ins Mondenlicht.‘
Da bebte die Erde und öffnete sich spaltbreit zwischen den knorrigen Wurzeln, ein schleierumhülltes Wesen mit flachshellem Haar schwebte heraus und blieb vor dem Burschen stehen.
‚Was willst du?‘, fragte die Fee.
‚Schenk mir das Glück‘, bat der Bursche.
‚Das kann ich nicht‘, sagte sie. „Niemand kann‘s. Man muss es allein finden, weil es in einem selbst liegt. Ich verfüge bloß über irdische Güter.‘
‚Das reicht‘, meinte der Bursche. ‚Zaubere mir ein schmuckes Haus, und stelle in den einen Raum eine Truhe mit Dukaten. Jedes Mal, wenn ich davon eine Hand voll entnehme, sollen ebenso viel Münzen nachgefüllt werden. Die übrige Einrichtung kann nach deinem Geschmack sein. Da bin ich nicht mäklig. Nur eins möchte ich noch erbitten: einen prächtigen Rappen, der schneller ist als die anderen Pferde.‘
‚Überleg es dir genau‘, warnte die Fee. ‚Was du möchtest, kann ich dir geben, doch das Glück erlangst du damit nicht.‘
‚Lass das meine Sorge sein‘, sagte der Bursche. ‚Ich weiß es besser.‘
Die Fee wiegte sorgenvoll den Kopf, stand aber zu ihrem Wort. Als der Bursche zurückkam, fand er anstelle der Hütte ein palastähnliches Haus. Alles funkelte, glänzte und glitzerte daran. Im Innern barg das Gebäude eine wundervolle Einrichtung. Tische und Schränke waren aus feinstem Ebenholz, die Bettwäsche aus zarter Seide, und den Marmorboden bedeckten weiche Teppiche. In einer Ecke stand die prächtige Truhe mit den Dukaten, und jedes Mal, wenn der Bursche welche herausnahm, sprangen sogleich andre mit leichtem Klirren in den Behälter.
Nun konnte er sich gönnen, was sein Herz begehrte. Er aß viel, trank noch mehr und ritt gern auf dem Rappen. Immer öfter ließ er die Großmutter allein, sie fühlte sich einsam in dem riesigen Haus und grämte sich, weil der Enkel die Tage so nutzlos verbrachte. Sie wurde rasch hinfällig, und als der Bursche eines Abends heimkehrte, fand er sie tot in ihrem Zimmer. Er kaufte den prunkvollsten Sarg, am Grab aber vergoss er nicht eine Träne.
Jetzt ritt er täglich ins Dorf, doch es brachte ihm keine Freude wie ehemals. Er behandelte nämlich die Menschen so hochmütig, dass sich einer nach dem andern von ihm abwandte. Wenn er im Wirtshaus zechte, blieben um ihn herum die Tische leer, und immer seltener fand sich ein Mädchen, das mit ihm tanzte. Sollen sie sich zum Teufel scheren, dachte er. Du brauchst sie nicht, du bist reich und kannst dir jederzeit gönnen, wonach dir der Sinn steht.
Er vertilgte täglich Unmengen erlesener Speisen und Getränke. Die Völlerei hatte Folgen: Der Bursche wurde fett und träge. Das Pferd ächzte unter seiner Last, und schließlich bereitete es ihm sogar Mühe, in den Sattel zu steigen.
Eines Nachmittags trabte der Rappe einen Waldweg entlang, und der Bursche blickte griesgrämig um sich. Auf einer Lichtung bemerkte er drei Holzfäller, sie schlugen kraftvoll mit den Äxten in einen Baum, dass die Späne nur so stoben. Bevor der Stamm sich neigte und krachend aufschlug, sprangen die Männer flink beiseite. Sie gönnten sich eine Pause und sprachen miteinander. Offenbar erzählten sie gar lustige Dinge; denn sie mussten immerzu lachen. Der Bursche wurde neugierig und lenkte sein Pferd zu ihnen.
‚Ihr schwatzt so heiter, Leute‘, sagte er. ‚Mir scheint fast, ihr seid glücklich.‘
‚Warum sollten wir‘s nicht sein?‘, fragte der Eine. ‚Die Arbeit geht uns flott von der Hand.‘
‚Und bei jedem Axtschlag‘, meinte der Zweite, ‚spüren wir, dass wir gesund und kräftig sind.‘
‚Außerdem bringen wir andern Nutzen‘, erklärte der Dritte. ‚Mit dem Holz, das wir fällen, werden Häuser gebaut.‘
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