1 ...6 7 8 10 11 12 ...38 Mein Vater hasste es, plötzlich Rentner zu sein und das bei halbem Geld. Er war immer noch ein sehr starker und innerlich ein junger Mann, auf keinen Fall einer der auf der Parkbank mit anderen Rentnern Skat spielt. Saustark, ruhig, höflich, immer umgeben von einer Aura von Power, suchte er sich eine Schwarzarbeit, weil das Geld auch einfach nicht mehr für eine Familie von vier Menschen reichte.
Die neue Arbeit, Steine zu schneiden und zu schleifen war sau-hart. Aber ich denke er wollte sich einfach auch selbst beweisen, dass er noch kein Rentner ist, dass er immer noch stark ist.
Im Februar dann die ersten Tage mit Rückenschmerzen. Er arbeitete weiter. Keiner wunderte sich weil ja seine Arbeit sehr hart war und wir alle seine Müdigkeit nach einer 8 Stunden Schicht sahen.
Die Schmerzen wurden stärker, er musste gelegentlich mal einen Tag aussetzen und der erste Arzt behandelte ihn mit Spritzen. Im März und April wurden die Schmerzen noch schlimmer, musste manchmal eine ganze Woche aussetzen und die Spritzen wurden regelmäßig. Ohne die ging es gar nicht mehr. So gab er dann schließlich seine Arbeit auf.
Noch mehr Spritzen und dann schließlich im April zum ersten Mal ins Hertener Krankenhaus und natürlich noch mehr Spritzen. Aber die Schmerzen hörten jetzt nicht mehr auf und die Spritzen halfen einen Dreck. Dann wieder raus nach Hause und zwei Wochen später wieder zurück ins Krankenhaus.
Noch mehr Spritzen, er konnte jetzt nur noch langsam laufen, aber immerhin das konnte er noch. Im Krankenhaus haben wir ihn natürlich jeden Tag besucht, meine Mutter morgens und nachmittags. Nach Ende meiner Schicht um 3.45 fuhr ich auch sofort ans Bett meines Vaters.
Er wurde schwächer, ein Scheiß Gefühl für einen Mann der zeitlebens ein starker Mann gewesen war. Ich erinnere mich, dass er mir als Kind manchmal diesen Trick gezeigt hatte. Er krempelte seine Ärmel hoch, spannte seine Oberarmmuskeln, dicke Dinger, und ließ ein spitzes Küchenmesser von 30 Zentimeter gerade runterfallen auf seine Muskeln. Da gab es nie Blut zu sehen für mich - und das Messer war sau-scharf und spitz. Ich habe immer genau seine Muskeln untersucht, ob da nicht doch irgendwas von der Spitze des Messers zu sehen war.
So war er.
Im August dann wieder Krankenhaus und es ging weiter mit Spritzen und jetzt noch ein zusätzliches Korsett das er ständig tragen musste. Er war jetzt schon drei Wochen da drin, wir besuchten ihn täglich, jetzt ging‘s nur noch mit zwei Krücken durch den Gang.
Eines Nachmittags, bei unserem üblichen Besuch, genau vor seinem Zimmer, wurden wir von einer Krankenschwester aufgehalten. Der Chefarzt wollte uns alle sprechen - er wartete bereits auf uns.
Eine hohe Ehre, dass der Boss sich höchstpersönlich um unseren Vater kümmerte.
An diesem Tag, in diesen 20 Minuten mit dem Chefarzt trat der Tod in unser Leben!
Nachdem sich sein Zustand ja nun fünf Monate nicht gebessert hatte, sondern sogar jeden Tag schlechter wurde, hat man schließlich Blutproben an ein Krankenhaus in Essen geschickt, das auf Blutkrankheiten spezialisiert ist und bessere Untersuchungen anbot.
Essen ist nur 30 Kilometer von Herten entfernt, da hätte ich mit dem Fahrrad in einer Stunde hinfahren können. Aber der Boss war gut, hat er ja schließlich gemacht, hat halt nur fünf Monate gedauert bis zu seinem Geistesblitz. Die Ergebnisse waren gerade eingetroffen.
Mein Vater hatte eine sehr seltene Blutkrankheit, die nur bei einigen wenigen Patienten in Deutschland im Jahr diagnostiziert wurde. Es gab wohl noch mehr Chefärzte die mit Geistesblitzen auf dem Kriegsfuß standen. Das Mark des Knochens verschwand und alle seine Knochen werden dadurch spröde und brechen irgendwann. Sechs Monate lang die verdammten Cortison - Spritzen und niemand ist mal auf die Idee gekommen sich zu fragen, warum die nicht halfen. Und so was darf sich Chefarzt nennen, der sollte besser bei Aldi Rabattmarken in die Hefte kleben.
Bei Röntgenaufnahmen seines ganzen Körpers heute Morgen, wurden bereits zwei große Löcher in seiner Schädeldecke entdeckt. In all diesen Monaten vorher ist denen nicht einmal die Idee gekommen Röntgenaufnahmen zu machen. Ich hatte in diesem Moment nicht den Mut diesen ekligen schleimigen Typen zu verprügeln, der da in seiner Aura von Gott saß.
Aber er war der Boss und meine Mutter schaute mit Achtung zu ihm auf.
Mein Vater hatte höchstens noch ein Jahr zu leben, aber wahrscheinlich weniger.
Der Tod war jetzt da, im Flur auf dem Weg in sein Zimmer, in unserem Leben. Jeder versuchte sich zu sammeln, den Schmerz zu unterdrücken, so zu tun als ob es ein ganz normaler Besuch ist. Ich musste etliche Male auf die Toilette, einfach nur, um da zu heulen, sonst hätte er meine Tränen unter dem Lächeln gesehen. Er war guter Laune, lächelte, scherzte rum, scherzte über den Körper der nicht mehr so will wie er sollte. Fragte uns öfters warum wir so ernst sind.
Zuhause gab‘s dann natürlich viele Tränen von meiner Mutter. Und manchmal sah ich sie auch in den Augen meiner Großmutter, aber nur, dass bisschen Wässerige, das vor dem Ausbruch erscheint, der aber dann nie kam.
Meine Schwester nahm diese Nachrichten auf, als ob es sie nie gab. Keine Reaktion, keine Träne, Nichts, einfach weiter machen, so als ob nichts wäre. Das hat mich am Anfang sauer gemacht und habe es nicht verstanden. Das war ja ihr Vater und er war super zu ihr und hat sie geliebt.
Sie hat jede Ausrede genutzt um nicht mit ins Krankenhaus zukommen. Konnte sie es nicht vermeiden mitzukommen, war sie dann immer super cool am Krankenbett.
Erst nach ein paar Wochen habe ich verstanden. Jeder geht mit Schmerz verschieden um.
Sie war 13 zu der Zeit und ein Weg mit Schmerz umzugehen, ist so zu tun, als ob er nicht da ist, ihn nicht reinzulassen. Aber natürlich ist er da, man steckt ihn nur weg, tief rein in irgendeine Ecke in der er nicht auffällt. Ich bedauerte sie manchmal, aber man muss es auch akzeptieren wie es passiert.
Es wurde schlimmer und schlimmer mit meinem Vater. Selbst auf Krücken ging‘s auf dem Gang nicht mehr auf und ab. Gerade mal im Zimmer konnte er noch auf seinen Krücken laufen. Dann kam auch noch ein neues Korsett. So was wie in einer Irrenanstalt, nur in einer harten Schale.
Dann kam er mal wieder nach Hause, geplant für zwei Wochen aber drei Tage später war er wieder zurück in seinem Krankenhausbett. Jeder Besuch bei ihm war schmerzhaft, weil wir alle über seinen nahen Tod wussten, er aber nicht. Er war immer in bester Laune, immer rumscherzend über das Leben, die Ärzte, mit uns und über seine Krankheit, die ihn ja nur vorrübergehend lahmlegt.
Aber er sprach nie über die Zukunft, immer nur in der Gegenwart oder über Morgen, aber nie weiter voraus.
Ich bin eines Tages, irgendwann im September, spät angekommen. Ich wusste, dass meine Mutter schon wieder nach Hause gegangen war. Ohne anzuklopfen ging ich rein und er hat mich wohl nicht mehr erwartet. Er stand am Fenster auf einer Krücke, schaute raus, zuckte zusammen als er mein Hallo hörte, drehte sich aber nicht um. Seine Hand kam mit einer schnellen Bewegung hoch, dann versuchte er mit seinem Körper die Hand zu verbergen.
„Ah, da bist du ja.“
Dann drehte er sich um, die Träne war so klein, die sein Gesicht noch immer feucht machte, dann das große Lächeln und Scherzen und zurück ins Bett und dann war alles wieder normal, wie bei jedem Besuch.
Nach dem Besuch ging ich raus zu meinem Wagen, aber ich konnte nicht fahren. Stattdessen setzte ich mich auf eine Parkbank. Und dann konnte ich nicht mehr. Meine Tränen flossen wie ein Bach, mein Körper war irgendwie nicht mehr richtig unter Kontrolle, es schüttete nur noch aus mir raus.
Er wusste Bescheid. Er wusste seit langem das der Tod nahe war. Das nur noch Augenblicke übrigblieben für ihn. Er hat es schon vor uns gewusst. Der Tod eine Tatsache für ihn, ganz nahe dran.
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