1 ...7 8 9 11 12 13 ...38 Wie lange bleibt Schmerz in einem? Ich habe geheult als ich dieses Buch in Englisch geschrieben habe und jetzt bei der Übersetzung ins Deutsche heule ich wieder.
Schmerz bleibt wohl, so wie auch Glück, so wie auch alle anderen Gefühle. Man kann sie wegstecken in irgendeine kleine Ecke wo niemand sie sieht, aber sie sind immer noch Teil von uns. Man kann sich eine neue Erinnerung schaffen, eine in der man gut aussieht, in der man toll ist, aber alles ist noch da. Man kann sich nicht in die Tasche lügen, die wirkliche Wahrheit ist eingebrannt in uns, ein Teil unserer Persönlichkeit, ein Teil was uns ausmacht. Man kann sich reich machen, so reich das niemand einem mehr die Wahrheit sagt, aber das kleine Ich ist immer noch da und bleibt da, und verkümmert.
Dann ist es besser zu heulen, weil es einfach da ist.
Ich hab lange auf dieser Parkbank gesessen. Zuhause konnte ich das niemandem sagen. Ich konnte keinem sagen dass er wusste dass er bald stirbt. Es ging einfach nicht.
Er siechte dahin mit seinem Körper, sein Geist hellwach, Oktober und November vergingen. Anfang Dezember wurde der Plan gemacht, dass er Weihnachten vielleicht für zwei Tage nach Hause kommt, um mit der Familie zusammen zu sein.
Im Dezember bin ich dann nochmal alleine mit ihm gewesen, meine Mutter und die anderen waren schon nach Hause gefahren. Alles war normal, scherzen und gute Laune und mit den Schwestern flirten. Dann nahm er plötzlich meine Hand, wurde ganz ernst.
„Du musst mir ein Versprechen geben.“
„Na klar. Was soll ich dir versprechen?“
„Wenn ich tot bin, und das wird sehr bald sein, versprich mir, dass du diese Paula und ihren blöden Mann aus dem Haus wirfst. Ich hätte das vor 13 Jahren tun sollen. Ich hätte das wirklich tun sollen. Versprichst du es mir?“
Und er presste meine Hand. Und ja, ich hab es ihm da am Bett versprochen. Irgendwie wusste ich, dass er den Moment mit der Klopp - Peitsche nie vergessen hatte.
Dieses Versprechen konnte ich nach seinem Tod nicht einhalten. Aber ich hab es ihm versprochen und da führt kein Weg dran vorbei. Der Schmerz war so groß in mir. Habe mehrmals mit meiner Großmutter Paula ein Gespräch angefangen, aber nicht durchgehalten, irgendwie vor den letzten Worten immer aufgegeben.
Aber ich hatte es ihm versprochen!
Weihnachten zuhause, konnte für ihn nicht klappen. Er wurde schwächer. Das war schon Mitte Dezember klar. Am 21 Dezember, unser übliche Besuch von zwei bis sechs Uhr, ein normaler Tag. Er war bester Laune, konnte sich kaum noch bewegen und wir haben uns bis zum nächsten Tag verabschiedet.
Gerade zurück im Haus angekommen, klingelte das Telefon.
Die Krankenschwester die für meinen Vater verantwortlich war:
„Sie alle müssen sofort wieder zurückkommen. Ihr Vater hat mir gerade aufgetragen sie anzurufen. Heute ist der Tag. Er wird heute sterben.“
So einfach. So schnell. Wie kann er das wissen?
Meine Mutter hatte noch nicht mal ihren Mantel ausgezogen und es ging zurück ins Krankenhaus so schnell wir konnten.
Da lag er dann, sein Körper so schwach, dass er nichts mehr bewegen konnte, außer seinem Kopf, den er noch zu jedem von uns bei der Ankunft drehen konnte. Auf seinem Gesicht lag ein unbeschwertes Lächeln.
Und wie üblich die Scherze mit jedem. Waren wir wirklich von ihm gerufen worden weil er jetzt gleich oder in der Nacht stirbt? Aber über den Tod spricht man nicht, sprach niemand von uns. Scherzen, Lachen, Lächeln und sprechen mit jedem, jedes Mal den Kopf demjenigen zudrehend.
„Ich muss dringend“, sagte er dann, und meine Mutter schob die Glasflasche unter die Bettdecke, steckte seinen Schwanz rein. Man sah seine Anstrengung. Er versuchte zu pissen.
„Geht doch nicht. Jetzt hat das Ding auch aufgehört zu funktionieren“, mit lachender Stimme.
Einige Minuten vergingen mit normalen Gesprächen. Etwas änderte sich im Raum. Man konnte es fühlen. Er hob den Kopf lächelte jeden von uns an, nacheinander und seine Augen glitzerten als sie auf meine trafen. Er nahm einen tiefen Atemzug, und war weg. Starb da direkt vor unseren Augen mit einem Lächeln auf dem Gesicht. Aber er war nicht mehr da.
Aber dieses letzte Lächeln war immer noch in sein Gesicht geschrieben, mit all seiner Wärme.
Es war vorbei. Ich berührte sein Gesicht und küsste ihn, aber es war niemand mehr drin in dieser Schale, die aufgehört hatte zu funktionieren.
Ich hab noch nie in meinem Leben meinen Vater geküsst. Er hat der Welt sein Lächeln hinterlassen und er hat es mir hinterlassen.
Die nächsten drei Tage überrollten uns einfach. Beerdigung am 24. Dezember, ein Weihnachten, das ich nie in meinem Leben vergessen werde. Nach dem üblichen Kaffeetrinken danach, zurückgezogen in dem großen Fernsehsessel, leerte ich eine Flasche Wodka.
In den Wochen danach und eigentlich bis heute, hat mich dieser letzte Moment des Todes niemals verlassen. Der Tod mit einem Lächeln. Was für einen Mut. Er wusste lange vor uns, dass das Ende nahe war. Er sagte mir das in diesem ganz kleinen Moment am Fenster.
Er ist wie ein Krieger gegangen.
Ich möchte genauso sterben. Ich hoffe ich habe den Mut wenn es Zeit für mich ist. Den Mut zu akzeptieren, zu lächeln und ihn willkommen zu heißen, den Tod.
Ich möchte mein Leben so leben, dass ich es kann. So, dass ich nichts bereue und jede Sekunden meines Lebens als Teil von mir akzeptieren kann. Ein volles Leben und dann gehen.
Dieser Gedanke mit einem Lächeln zu gehen, hat mich nie verlassen. Ich hoffe am Ende meines Lebens habe ich diesen Mut in meinen Spiegel zu sehen, jede Sekunde zu sehen und jede Sekunde akzeptieren, mein Leben zu sehen wie ein schönes Gemälde, in dem ich jede Sekunde einen neuen Pinselstrich dazu gefügt habe, und am Ende ist es fertig und es ist gut so. Jeder Pinselstrich, jede Farbe an der richtigen Stelle.
Man legt den Pinsel weg, betrachtet es mit einem Lächeln und geht. Ich hoffe es.
Durch den Tod meines Vaters habe ich über mich gelernt und viel über die Menschen die zurückblieben. Sechs Monate später habe ich eine kleine Wohnung gemietet, nur für mich. Der Kontakt mit meiner Familie ist nie abgerissen, wurde aber weniger über die Jahre, weil einfach mein Leben in anderen Bahnen weiterging.
Ich liebe meine Schwester Barbara - und auch heute, 2015, telefonieren wir jede Woche.
Meine Großmutter, Paula:
Alles veränderte sich jetzt schnell. Meine Großmutter habe ich gehasst, jeden Tag und jede Sekunde an die ich mich erinnern kann, bis zum Tod meines Vaters.
Ihr sarkastischer tödlicher Witz, ihr Kritik jeden Tag, ihre hunderte von Bemerkungen, ihre Intelligenz. Wir waren ihre Opfer. Mit fünfzehn habe zurückgekämpft, mich gewehrt, rebelliert. Meine Schwester hat sich nie gewehrt, hat alles in sich hineingefressen.
Ich erinnere mich, irgendwann im Alter von elf oder zwölf Jahren kam dann der Tag, als alles zu viel wurde für mich. Am Abend, alleine in meinem Zimmer, habe ich dann beschlossen das ganze wissenschaftlich anzugehen. Buch zu führen über jede Sekunde des nächsten Tages.
Ich nahm ein großes Blatt Papier. Auf die linke Seite schrieb ich, von oben angefangen, alle Ausdrücke die meine Großmutter mir an diesem Tag gesagt hatte und an die ich mich erinnern konnte.
Du Idiot! Du Affe! Du Tunichtgut! Kein Gehirn! Blöd wie ein Stück Scheiße und so weiter. 19 Ausdrücke und Beschimpfungen hatte ich auf der linken Seite gesammelt. Unten noch ein wenig Platz wenn sie eine neue erfinden würde. Der nächste Tag war mein Tag, mein Wissenschaftstag. Die Liste hatte ich versteckt.
Ich wurde der Beobachter einer irrealen Welt, meiner Welt und meiner Familie.
Die erste Beschimpfung geschah oft schon in den ersten fünf Minuten, nachdem ich morgens die Küche betreten hatte. Merken, in mein Zimmer laufen, einen Strich rechts neben der Beschimpfung machen.
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