1 ...8 9 10 12 13 14 ...38 Zurück, so tun als ob nichts wäre, zwei weitere Beschimpfungen, zurück in mein Zimmer und zwei Striche mehr.
Wurde ich von einem neuen Ausdruck überschüttet, merken, in mein Zimmer und schnell auf die linke Seite zu den 19 anderen schreiben, die ich schon hatte. So ging‘s den ganzen Tag bis spät abends. Niemand hat etwas gemerkt, den ganzen Tag.
Alleine in meinem Zimmer, alle anderen waren schon schlafen gegangen, konnte ich die Liste aus meinem Versteck holen. Ich konnte sie betrachten, zählen und analysieren.
Auf der linken Seite hatten sich 28 verschiedene Ausdrücke angesammelt.
Auf der rechten Seite zählte ich 213 Striche. 213 Mal hat mich dieser Teufel beschimpft. Und meine Schwester hat immer dasselbe abbekommen wie ich. Also für sie wahrscheinlich noch einmal 200 Beschimpfungen dazu. Was für eine Hexe.
In dieser Nacht hatte ich vor dem Einschlafen Phantasien von Blut. Von viel Blut. In die Küche zu gehen und das größte Messer nehmen, in sie reinstechen, wie wild, damit das Blut auf alle Wände spritzt. Das Messer nach jedem Stich noch extra rumdrehen damit ja alles rausspritzt und jedes Loch riesig wird.
Mein Vater tot, ein Hauptspieler in unserem Familien Drama war plötzlich weg. Und jetzt änderte sich langsam alles. 80 % dieser täglichen Beleidigungen hörten in den nächsten sechs Wochen auf.
Das war richtig faszinierend zu beobachten.
Das Hauptproblem in dieser Familie war wohl ein Konflikt zwischen meinem Vater und meiner Großmutter, der nie ausgetragen wurde. Der nie an die Oberfläche kommen konnte, der 16 Jahre alle Handlungen beeinflusste.
Das ist wie eine Fußballmannschaft die vier Mittelstürmer hat. Einer versucht gar nicht das Tor zu treffen, sondern stattdessen nur seine drei Kollegen abzuschießen.
Paula wurde jetzt viel weicher, viel umgänglicher und richtige Gespräche waren mit ihr möglich ohne direkt beschimpft zu werden. Über die folgenden Jahre, mein Leben ging weiter, vom Chemielaborant bis zum Psychologie Studium in Berlin, habe ich sie regelmäßig in Herten besucht.
Ihre Erinnerung verschwand langsam, erst das, was lange zuvor geschehen war und dann auch langsam das Gestern. Mit 26 bin ich mal auf ein Wochenende von Berlin aus rübergefahren. Alle waren bereits schlafen gegangen und ich saß mit ihr vor dem Fernseher. Zeit ihres Lebens konnten Fußball und Action Movies sie total begeistern. Die Art von Filmen, in denen viele starben und viel geschossen wurde und es einen Polizisten gab der am Schluss, nachdem alle tot waren, den Fall geklärt hatte.
Einen solchen Film sahen wir uns zusammen an. Sie saß da neben mir, mit ihrem Körper und Geist gefesselt von der Aktion auf dem Bildschirm. Alle paar Minuten kamen ihre Fragen.
„Warum hat der plötzlich eine Kanone?“
„Ist das der Polizist?“
„Warum findet der jetzt diesen Wagen?“
Alle zehn Minuten musste ich ihr den Film neu erklären. Ich konnte dem Film gar nicht mehr so richtig folgen. Es war zu faszinierend sie zu beobachten. Aller zehn Minuten begann ein neuer Film für sie, mit neuen Schauspielern, mit einer neuen Handlung und sie versuchte so verzweifelt alles zu verstehen.
Das war eigentlich richtig lustig sie zu beobachten, für mich viel besser als der Film. Manchmal sah sie rüber zu mir und unsere Augen trafen sich. Ich sah es in jedem Blick von ihr. Sie liebte mich. Sie hat mich immer geliebt und sie war eine sehr süße Person da ganz tief drinnen.
Diese Seite von ihr hatte ich nie gesehen. Die konnte sie in dieser Familie nie ausleben. All der Sarkasmus, der scharfe Verstand, die Bissigkeit ihrer Bemerkungen waren weg. Nichts mehr da.
Sie hat mich immer geliebt und sie hat auch immer meine Schwester geliebt, aber es konnte nie an die Oberfläche kommen und wir haben es nie gesehen. Aber in diesem Moment war das so sonnenklar in ihren Augen.
Ist das Leben nicht irgendwie verrückt? Vier verschiedene Persönlichkeiten in dieser Familie.
Sie passten nicht zusammen, konnten keinen ihrer Konflikte lösen. Und wir zwei Kinder standen da in der Mitte und versuchten verzweifelt in dem täglichen Chaos Sinn zu finden. Das war nicht ihre Schuld. Jeder von ihnen war gefangen in seinem eigenen Gefängnis und sie haben versucht das Beste daraus zu machen. Zurückblickend sind wir in einer fantastischen Familie aufgewachsen, trotz allem Chaos. Es hat mich stark gemacht und es hat meine Schwester stark gemacht. Und wir beide haben unseren Weg darin gefunden. Sie haben uns alle geliebt, jeder auf seine Weise, jeder so gut wie er unter den Umständen konnte.
Sie alle haben uns ihr Bestes gegeben, und mehr kann man von niemandem verlangen.
1985 habe ich bereits in Los Angeles gelebt, flog rüber nach Herten um in Freiburg für mein Mini Geschäft auf der Promenade von Venice Beach Silberschmuck einzukaufen. Paula, jetzt 85 Jahre alt, war bis zum Tage meines Abfluges in Los Angeles ok. Bei der Ankunft in Herten hatte sich alles geändert.
Während meines Fluges wurde sie krank und man musste sie ins Hertener Krankenhaus bringen. Gerade im Haus in Herten angekommen, fuhren wir dann auch sofort ins Krankenhaus.
Ihr Körper war schwach, ihr Geist wach wie immer, aber immer nur in der Gegenwart. Noch mehr der Vergangenheit war verschwunden und jetzt waren es nur noch fünf Minuten der Gegenwart die da hängenblieben. Als ich sie da so liegen sah und mit ihr redete, wurde mir plötzlich klar, dass ich ihr alles vergeben hatte, schon lange vorher. Ich mochte sie. Aller Hass hatte sich in Luft aufgelöst.
Die Diagnose der Ärzte:
„Sie ist ja jetzt schon 85 aber sie wird bestimmt noch viele Jahre leben. Alles kein Problem. In einer Woche wird sie wieder zuhause sein.“
Am nächsten Morgen sind wir wieder hin zu ihr. Sie empfing uns mit ihrem üblichen Lächeln, und meine Mutter gab ihr die berühmte Longines Uhr, die Uhr die ich jeden Sonntagmorgen um 7.45 bewundert hatte, sie oft in der Hand gehalten hatte weil sie einfach so besonders war.
Sie muss meiner Mutter wohl am Tag vorher gesagt haben, dass sie sie mitbringen soll. Paula gab sie mir.
„Für dich. Du hast sie immer bewundert. Jetzt brauche ich sie nicht mehr. Verkauf sie wenn es dir mal dreckig geht und du Geld brauchst.“
Für mich. Was für ein Geschenk.
Nach vielen Stunden mit ihr sitzend und redend fuhren wir wieder nach Hause. Die Fahrt von Krankenhaus bis zur Feldstraße dauert 20 Minuten. Als wir zuhause ankamen war sie bereits tot. Sie starb 10 Minuten nach unserem Besuch, während wir noch im Wagen zurückfuhren.
Sie hatte auf mich gewartet, dass ich noch einmal zu ihr kommen konnte, den langen Weg von den Staaten. Ich wusste dass in dem Moment, als sie mir die Uhr gab.
Einige Tage nach der Beerdigung. Meine Mutter:
„Sie hat nur darauf gewartet, dass du nochmal kommst. Ich wusste das. Sie wollte dich und Barbara nochmal sehen, zusammen, damit sie Abschied nehmen kann von euch beiden. Wenn du erst in drei Jahren gekommen wärst dann hätte sie noch drei Jahre gelebt. Sie hat sich so gefreut am Tag vor deinem Abflug nach Herten. Ich wusste das sie gehen wollte sobald sie von euch Abschied genommen hat.“
Meine Großmutter, die Hexe, der Teufel aus der Hölle, innen eine wunderschöne Person.
Am Ende habe ich das alles verstanden. Das Leben ist verrückt.
1968 bis 1974 – Arbeit
Das Alter von 18 bis 24 ist wahrscheinlich für jeden Menschen eine echt schwierige Zeit und so auch für mich. Sich der Gesellschaft zu stellen, versuchen einen Platz darin zu finden, eine Zeit der Orientierung. Mit 19 habe ich meine erste Freundin getroffen, ein wunderschönes Mädchen aus meiner Heimatstadt Herten. Sie war viel jünger als ich, aber wir sollten fünf Jahre zusammenbleiben, haben uns sogar offiziell verlobt. In den letzten zwei Jahren kamen mir viele Zweifel, nicht wirklich über sie, ich habe sie geliebt, sondern eher, dass diese Beziehung bis zur Heirat und bis ich alt bin, nur dann funktionieren wird, wenn ich zeitlebens in Herten wohnen werde.
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