Paula:
„Du kannst dir doch gar nicht vorstellen wie das früher war. Dein Großvater hat nachts mit zwei Decken über den Kopf leise den amerikanischen Sender gehört. Wir hatten alle solche Angst, dass das einer von den Nachbarn hört.“
Mein Großvater hätte normalerweise schon längst den Raum verlassen, hoch in sein Schloss, aber nicht heute. Seine Augen lächelten.
„Dem amerikanischen Nachrichtensender zu lauschen war sehr gefährlich. Die Nazis hätten uns alle abgeholt wenn sie es gewusst hätten.“
„Abgeholt und dann wo hingebracht?“
„Das wusste doch keiner. Leute sind einfach verschwunden. Man hörte mitten in der Nacht Wagen anhalten, laute Stimmen, Kommandos, und nach 20 Minuten war es dann wieder still. Am nächsten Tag war dann eine ganze Familie verschwunden. Und keiner sprach mehr darüber. Jeder hatte Angst.“
„Was ist mit den Juden? Habt ihr die gehasst?“
„Wir haben die nicht gehasst. Einige waren gute Menschen, aber andere sehr schlecht?“
„Was meint ihr damit? Schlechte Menschen?“
„Wenn man mit der Familie in Schwierigkeiten war und man brauchte etwas Geld, dann ging man zum Juden, die haben immer Geld mit sehr hohen Zinsen verliehen. Und wenn man nicht bezahlen konnte, dann waren sie skrupellos, einige sogar gewalttätig. Am nächsten Tag gehörte das Geschäft einer jüdischen Familie. Das ist oft passiert. Sie haben kein Herz. Für sie geht es immer nur ums Geld. Aber nicht bei allen. Einige waren auch sehr nett.
Ich drehte mich zu meinem Vater um, der immer noch kein Wort gesagt hatte und weiterhin seinen Teller anstarrte:
„Du hast meine Frage nicht beantwortet. Warst du in der SS?“
Plötzlich guckte er mich an, in die Augen, nicht wütend, stand auf:
„Ich will darüber nicht sprechen.“
Dann ging er aus dem Wohnzimmer.
Alle ignorierten mich jetzt. Meine Mutter und Paula räumten wortlos den Tisch ab. Nur mein Großvater war noch da, studierte mich irgendwie mit seinen Augen, stand dann auf und ging raus.
Mein Großvater war ein richtiges Mysterium für mich. Er lebte in seiner eigenen Welt, sprach nicht viel. Aber manchmal sah ich, dass da irgendwo tief drinnen ein super Typ steckte.
Ich habe an dem Tag nicht gekriegt was ich wollte. Ich wollte Antworten von meinem Vater. Aber ich habe auch nie abgelassen von meinem Vater. Wann immer sich mal ein günstiger Moment ergab, und er war guter Laune, dann hab ich diese Frage wieder gestellt. Ich habe nie eine Antwort erhalten, aber er war auch nie böse, dass ich wieder fragte. Er hörte zu und verließ dann den Raum.
Er starb als ich neunzehn war. In den letzten 3 Monaten hätte ich diese Frage wieder stellen können. Aber ich habe nicht. Ich weiß, er hätte mir geantwortet. Aber diesen Menschen dahinsiechen zu sehen...- meine Frage verschwand einfach in mir. Es spielte alles keine Rolle mehr. Es war gut, so wie es war.
Vielleicht ein Jahr später habe ich nochmals etwas von dem tollen Typ in meinem Großvater gesehen. Ich kam gerade vom Gymnasium zurück als Paula mir befahl, sofort mein Fahrrad zu nehmen und meinem Großvater zu helfen. Er war stoppeln gegangen. Kennt einer diesen Ausdruck heute noch?
Auf den Feldern rings um Langenbochum wurden Kartoffeln, Möhren, Weißkohl und Rote Beete angebaut. Nachdem die Bauern ihr Feld abgeerntet hatten ging mein Großvater mit seinem Fahrrad los, um durch die Reihen zu gehen und alles an Kartoffeln einzusammeln das übersehen worden war. Da kam dann immer eine Menge zusammen. In meiner Familie wurde das ganze Jahr nie Kartoffeln gekauft. Die hat alle Ludwig gefunden - auf seinen Touren durch die Felder.
Ihm zu helfen passte mir natürlich nicht, aber einem ca. 75 jährigen zu helfen, habe ich zähneknirschend eingesehen. Also rauf auf mein Fahrrad und runter nach Langenbochum, aufs Feld, das meine Oma mir beschrieben hatte.
Da stand er dann auch, wartete auf mich. Einen riesigen Sack voll hatte er gesammelt und dann noch einen halben. Der volle Sack wahrscheinlich so um die hundert Kilogramm. Kartoffeln sind schwer.
Ich musste ihm helfen den vollen Sack auf sein Fahrrad zu binden, danach den halben Sack für mich, und los ging‘s zurück zu unserem Haus.
Jeder der in Herten lebt, kennt die Feldstraße. Von Langenbochum aus geht es einen Berg hoch und der ist ziemlich steil über ca. 500 Meter. Er war hinter mir. Und ich war jung und kräftig, also kein Problem für mich. Nach drei Viertel des Berges konnte ich nicht mehr. Mein Atem war alle und der Schweiß rann in Strömen. Also runter vom Fahrrad und den Rest schieben. Dabei guckte ich mich um, wo der Ludwig hinter mir ist. Klar war der schon längst von seinem Fahrrad runter, schob es, und ich muss wahrscheinlich oben auf ihn warten.
Wie falsch war ich damit gewesen. 50 Meter hinter mir da kam er dann. Immer noch auf seinem Fahrrad, mit seinen hundert Kilogramm, radelte in Super Zeitlupe ganz langsam näher. Dann auf meiner Höhe drehte er seinen Kopf zu mir, lächelte mich an und fuhr einfach weiter, langsam, bis ganz nach oben auf den Berg.
Dann stieg er ab, drehte sich mir zu und wartete bis ich schweratmend oben angekommen war. Lächelnd.
„Ganz schön hart der Aufstieg.“ Stieg einfach auf sein Fahrrad und fuhr weiter.
Zuhause angekommen war ich „alle“. Für mich einfach nicht zu verstehen, dass dieser 74 jährige Rentner stärker war als ich mit meinen 17 Jahren.
In der Küche:
„Ich dachte der Typ ist krank. Der ist 74. Wie kann der mich am Berg überholen?“
Ich habe es nicht verstanden. Er war eine harte Nuss. An diesem Tag, jedes Mal, wenn er an mir vorbeiging, erschien dieses Lächeln auf seinem Gesicht und seine Augen glitzerten mich an.
Das war er und so werde ich ihn immer in Erinnerung behalten. Mit 82 starb er, einfach nur so, am nächsten Morgen war er tot.
Ein Holländer:
Das ist so ein winzig kleiner Moment in meinem Leben, aber trotzdem habe ich ihn nie vergessen. Vielleicht war es einer der wichtigsten Momente meines Lebens.
1966 haben mir meine Eltern zum ersten Mal die Erlaubnis gegeben zu einer Fahrradtour mit meinem Freund Bruno ins 80 Kilometer entfernte Lüdenscheid. Für sieben Tage.
Wir folgten dem Plan nicht. Aus den 7 Tagen wurde eine Fahrradtour von 1400 Kilometern, über vier Wochen. Von Lüdenscheid quer durch Deutschland nach Luxemburg, von da bis fast an die Grenze nach Frankreich und wieder in den Norden bis Brüssel und über Holland zurück nach Herten.
Nur einmal habe ich meine Eltern aus Luxemburg angerufen, nur um zu sagen:
„Mir geht gut“, aber dann direkt aufgehängt. Die Antwort wollte ich erst gar nicht abwarten, wir wollten einfach weiter.
Ein Jahr später fragte ich dann wieder, ob ich mit meinem Freund bis Sardinien trampen kann, 2 Wochen Urlaub im Zelt und dann zurücktrampen bis Herten. Überraschenderweise erhielt ich sofort ein Ja als Antwort. Wahrscheinlich trauten sie meinem Freund Bruno wesentlich mehr als mir. Er hatte immer diese Art erwachsener zu erscheinen als ich.
Für diese Reise hatte mir mein Großvater meine erste kleine Kamera gekauft, nichts Besonderes, die billigste die es bei Quelle gab, aber sie machte Fotos.
Übrigens lebt dieser Freund Bruno auch noch heute, 2015. Hoffe ich jedenfalls. Irgendwo in Recklinghausen. Vielleicht liest er dieses Buch mal. Würde mich freuen.
Das hintrampen von Herten bis Italien, Civitavecchia (der Hafen von dem die Fähre nach Sardinien ablegte) ging einfach (blöder deutscher Ausdruck, in Englisch sagt man da lieber: „worked like a piece of cake“ (funktionierte wie ein Stück Kuchen), und dauerte nicht mal zwei Tage. Super Wetter und nur fünf oder sechs Autos die uns lange Strecken mitnahmen. Den Finger raus an der Straße, brauchten wir selten mehr als 30 Minuten auf den Nächten, der uns mitnahm, zu warten.
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