Um fünf Minuten vor eins musste sich jeder an den Mittagstisch setzten. Um ein Uhr wurde gegessen.
Für alle: Kartoffeln, Fleisch, Gemüse, manchmal Salat und Nachtisch. Für meinen Großvater wurde immer extra gekocht, irgendein Polnisches Durcheinander, mit viel Fleisch und Fett auf dem Durcheinander schwimmend.
Jeden Sonntag dasselbe Ritual. Nur diesen Sonntag war alles anders.
Wir alle saßen um fünf vor eins bereit am Tisch. Mein Großvater war wie immer verspätet und wir mussten warten. Paula schrie hoch zum ersten Stock:
„Ludwig, das Essen ist fertig. Jetzt komm schon!“
Mein Großvater kommt herein und setzt sich an den Tisch. Jetzt sind wir bei Tisch komplett und das Essen wird von Paula und meiner Mutter serviert. Paula stellt den tiefen Teller mit dem undefinierbaren Polnischen Durcheinander auf den Tisch für Ludwig.
Jeder beginnt und es wird gesprochen. Nach einer Weile fällt jedem auf das Ludwig nicht isst.
Er starrt auf seinen Teller. Paula ungeduldig:
„Iss, das ist genau das was du wolltest.“
Stille. Er starrt weiter auf seinen Teller. Stille und wir alle hörten auf zu essen. Er hatte alle unsere Aufmerksamkeit. Langsam steht er auf von seinem Stuhl, nimmt den Teller mit beiden Händen hoch, dreht ihn um und legt ihn umgedreht zurück auf den Tisch. Die dicke Suppe mit dem fettigen Fleisch läuft über den ganzen Tisch und tropft schon auf den Teppich.
Meine Schwester kicherte. Mein Vater lächelt, aber versucht es zu verstecken. Ich lachte los, wurde aber gestoppt von den Augen meiner Mutter. Meine Großmutter stand eingefroren am Tisch.
Mein Großvater sieht runter auf den umgedrehten Teller und sagt:
„Du dumme Kuh, ich hab dir genau gesagt was ich will.“
Ich erinnere mich heute nicht mehr genau was da alles falsch war mit seinem Essen. Meine Mutter und Paula rannten jetzt nur noch mit Lappen herum, um die Suppe auf dem Tisch zu halten. Ludwig geht erhobenen Hauptes aus dem Zimmer. Keiner konnte sich mehr zurückhalten. Meine Schwester lachte los und ich lachte los und mein Vater grinste wie ein Honigkuchenpferd.
Mit ihren Lappen herumrennend schimpfte meine Großmutter los:
„Das ist ein dummer Mensch und ihr alle hört sofort auf zu lachen. Er ist so dumm und blöd.“
„Was war denn jetzt falsch mit dem Essen“, fragte mein Vater immer noch grinsend.
„Nichts! Nichts, der wollte Schwein, und Schwein hab ich nicht. Da hat er halt Rind gekriegt. Was ist der Unterschied? Fleisch ist Fleisch und das soll er halt fressen. Dumm, dumm.“
Ich hoffe keiner bekommt jetzt den falschen Eindruck von meinem Großvater. Sein Zimmer im ersten Stock war sein Schloss. Der Garten war sein Schlossgarten. Das Essen musste das Sein was er wollte. Ansonsten hat er sich nie eingemischt in irgendetwas oder irgendwen. Er hat sich um seinen eigenen Scheiß gekümmert und andere so gelassen wie sie sind.
Solche Ausbrüche geschahen nur zweimal im Jahr, wie eine Riesen-Welle die über einem hereinbricht oder wie ein Blitz aus blauem Himmel. Er sagte sein Ding und dann war es vorbei. Danach wurde nie mehr darüber gesprochen.
Oradur-sur-Glane:
Kennt ihr diesen Namen? Schon Mal davon gehört? Geh ans Internet und suche nach dem Namen. Der Ort ist immer noch da, so wie 1962. Im Sommer dieses Jahres fuhren wir alle in einen langen Urlaub. Paula und Ludwig , meine Mutter, meine Schwester und ich. Für 6 Wochen nach Frankreich um Verwandte zu besuchen.
Normalerweise gab es nie Geld für Ferien oder Wegfahren. Verwandte zu besuchen ist dann wohl die günstigste Variante. Mein Vater blieb wie üblich zu Hause, um zu arbeiten. Er arbeitete immer.
Zwischen 1900 und 1920 wanderten etliche Verwandte meines Großvaters aus Polen aus. Die meisten fanden in Frankreich eine neue Heimat, nur ein Teil, mein Großvater, blieb in Deutschland hängen. Per Zug fuhren wir zu diesen Verwandten die nahe Par Le Creusot lebten. Nach zwei Wochen Wurst zum Frühstück, mittags und abends - sie waren Besitzer einer Metzgerei - nahmen sie uns dann auf eine große Frankreich Tour in den Süden mit. An Lourdes kann ich mich noch erinnern, das Haus der Heiligen Bernadette, die große Kirche und die hunderte von Krücken die in einer kleine Höhle von der Decke hingen. Zeichen von all den Menschen die hier geheilt worden waren.
Die Massen von Menschen kniend auf dem großen Platz vor der Kirche, alle Vergebung suchend und Erlösung von ihrem Gebrechen.
Auf dem Rückweg nach Par Le Creusot hielt der Wagen an einem kleinen Ort. Ich war zu der Zeit zwölf Jahre alt. Darüber zu schreiben - und selbst jetzt bei der Übersetzung ins Deutsche - kommen mir die Tränen. Ich habe den Namen dieses Ortes nie vergessen und zum ersten Mal 2014 in Google gesucht.
Nur ein Buchstabe war falsch. Ich hatte diesen Ort als Orandur-sur-Glane in meiner Erinnerung. Die ganze Stadt war niedergebrannt worden. Es lebte niemand mehr darin. Sie ist als Monument erhalten worden, genau wie an dem Tag als es passierte.
Ein übler Gestank von Rauch und Verbranntem hing in der Luft.
Ich fragte meine Mutter:
„Wann ist die Stadt verbrannt?“
„Vor 18 Jahren.“
Das konnte ich nicht verstehen. Vor 18 Jahren, aber ich bin doch erst zwölf. Wie kann es immer noch nach Rauch stinken? Das geht doch gar nicht.
Langsam ging unsere kleine Gruppe die Hauptstraße entlang. Natürlich nicht ich. Ich rannte los in die verbrannten Häuser, musste alles studieren, wunderte mich ständig warum es immer noch nach Rauch stinkt. Das musste ja so lange her sein als es passierte. Auf der Hauptstraße gab es die Schienen einer Straßenbahn und direkt hinter der Kurve lag sie dann auch. Ausgebrannt.
Ich entdeckte eine Nähmaschine an der noch die Hose hing, die gerade in Arbeit gewesen war, irgendwie so unnatürlich an die verrostete Nadel gepappt. Eine Hut halbverbrannt, den musste ich natürlich sofort aufsetzen, wollte ihn mitnehmen, aber das ging wohl nicht, denn ich wurde augenblicklich zurückgepfiffen ihn wieder da hinzulegen wo er gelegen hatte. Alles war irgendwie so unreal, Respekt und Ehrfurcht ausstrahlend. Trotzdem musste ich alles erkunden, alles studieren in jedem Haus links und rechts, und ständig dieses Gemecker meiner Mutter.
„Komm sofort her.“
„Nimmt das nicht hoch.“
„Lass das liegen.“
Aber das konnte mich nicht abhalten rumzustöbern, alles anzufassen. Wo waren die Menschen geblieben? Sind sie in die nächste Stadt zum Einkaufen gefahren? Warum ist alles so als ob es erst vor einer Stunde passiert ist? Konnte das wirklich so lange her sein? Einige Läden waren noch fast heil, als ob der Wurstverkauf gleich weitergehen konnte und der Metzger gerade mal in den Keller verschwunden ist um seine Schinken hochzuholen.
„Was ist hier eigentlich passiert? Warum ist alles verbrannt?“ fragte ich meine Mutter.
„Deutsche Soldaten haben die Stadt niedergebrannt. Sie haben sie abgeriegelt und alle Menschen getötet. Die Männer mussten sich an der Straßenseite aufstellen und wurden erschossen. Alle Frauen und Kinder wurden in die Kirche getrieben, dann hat man die Kirche niedergebrannt. Alle sind in der Kirche verbrannt.“
Ich habe verstanden dass dies von Deutschen getan wurde. Ich bin Deutscher. Ich komme aus Deutschland. Das war mir klar. Alles war so glasklar für mich und trotzdem unnatürlich. Und all die Fragen. Soviel Schmerz starrte mich von überall an, hing in der Luft, war zu fühlen, war so real zu spüren.
Ein Franzose sprach mit unseren Verwandten, deutete auf verschiedene Stellen neben der Straße.
„Da wurden die Männer erschossen“, flüsterte meine Mutter.
Da musste ich natürlich sofort hingehen, stellte mich auf und schloss meine Augen. So fühlt es sich an, so hat es sich angefühlt, für die Männer vor mir. Das passte meiner Mutter natürlich überhaupt nicht, ihren Sohn so stehen zu sehen - auf den Schuss wartend. Sie zog mich wütend weg.
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