Nur manchmal, zweimal im Jahr platzte ihm der Kragen, fünf Minuten, und meine Großmutter wurde klein, aber dann ging‘s direkt weiter.
Er war für mich so etwas wie ein Wunder der Natur. Er hatte vorher auch in der Zeche gearbeitet, ist irgendwann mit anderen für viele Tage im eingestürzten Stollen eingeschlossen worden.
Er ist mit 48 pensioniert worden: mit 100 % Tuberkulose, 100 % Steinstaub in der Lunge und 100 % von allem anderen was man als Bergarbeiter bekommen kann. Von so einem Mann wurde bestimmt nicht erwartet, dass er über 55 Jahre lebt. Aber er war eine harte Nuss, fuhr sein Fahrrad jeden Tag, arbeitete jeden Tag im Garten, bis 82. Er war sehr intelligent, wenn man ihn tatsächlich in ein Gespräch verwickeln konnte. Er hat alles verstanden und wusste alles. Durch seine sehr hohe Rente war er der Boss - daran gab es keinen Zweifel.
Meine Schwester, Barbara:(Name geändert)
Geboren als ich sechs Jahre alt war. Sie ist aufgewachsen als süße Person, sehr intelligent. Sie konnte den ganzen Tag mit sich alleine sein, endlos lächeln und lachen, mit ihren Puppen spielen oder Bilder malen. Diese dumme ständige Tirade meiner Großmutter hat sie nicht gehört oder sie tief in sich versteckt. Sie hat sich nie gegenüber meiner Großmutter verteidigt. Ich liebe sie.
Jeder von diesen Mitspielern sehr verschieden, zusammen eine Mischung aus der Hölle. Heute kann ich mich eigentlich nur noch an Ereignisse nach meinem fünften Lebensjahr erinnern.
Meine Großmutter Paula war der Meinung, dass ich so um die 150 bis 250 Mal am Tag irgendetwas falsch machte, ob ich im Raum war oder ganz woanders. Eine tägliche Hetze gegen mich. Jeden zweiten oder dritten Tag schlug sie mich. Angefangen hat das wahrscheinlich im Alter von vier. Sehr dunkel kann ich mich erinnern, als Strafe oft für viele Stunden im dunklen Keller eingeschlossen gewesen zu sein und danach gab‘s Prügel.
Sie hatte dieses super Folterwerkzeug, wir kennen es alle aus den Filmen übers Mittelalter. Einen 30 Zentimeter langen Stock am Ende mit ca. 50 Lederriemen. Sie nannte es immer: “Die Klopp–Peitsche.“ Im Mittelalter haben sich Mönche den Rücken blutig geschlagen, um von Gott Vergebung für ihre Sünden zu erlangen.
Sobald sie nur losging diese Klopp-Peitsche zu holen, habe ich vor Angst gezittert. Sie zog mir die Hose runter und mein nackter Arsch wurde damit behandelt. Ich habe die Schläge gezählt, und die Zähne zusammengebissen. Die Tränen liefen, aber ich war hart wie Stahl, habe sie sogar herausgefordert noch härter zu schlagen.
„Das ist alles?“
„Gib mir noch mehr.“
„Noch härter.“
„Ich fühl noch nichts.“
Natürlich hat es schweinisch wehgetan und die Tränen liefen, aber ich war hart bis sie schließlich aufhörte. Meine Mutter stand immer daneben, oft weinend, versuchte auf Paula einzureden, dass sie doch aufhören soll. Sie wurde einfach immer ignoriert und Paula hörte auf bevor das erste Blut floss. Wenn es sich dann ergab das ich am Nachmittag alleine im Haus war, sie waren wohl im nächsten Laden um einzukaufen, dann wurde es zu einer Manie in mir diese Klopp-Peitsche zu finden, manchmal stundenlang zu suchen, und wenn sie zurückkamen, so zu tun als wenn nichts wäre.
Manchmal fand ich sie, Paula hat sich immer wieder neue Verstecke ausgedacht. Dann schnitt ich einen Riemen ab, rannte so weit wie möglich weg vom Haus und schmiss den Lederriemen in irgendeine Hecke. Jeder Lederriemen zählte. Ein Riemen weniger bedeutete etwas weniger Schmerz, und war es wert jede Minute des Alleinseins zu nutzen um diese verdammte Peitsche zu finden.
Über die Jahre, wurden es weniger und weniger Lederriemen. Die Verstecke wechselten ständig. Am Ende waren dann nur noch 3 oder 4 übrig geblieben.
Die fehlenden Lederriemen hat meine Großmutter nie erwähnt.
Dann passierte etwas, womit niemand gerechnet hatte. Ich war 6 oder 7 Jahre alt, mitten in der nächsten Prügelstunde für mich. Im Hausflur, nackter Arsch, nach vorne gebeugt damit sie besser schlagen konnte, in Tränen. Meine Mutter neben mir, auch am Heulen. Und meine Großmutter schlug.
Niemand hörte, dass der Haustürschlüssel sich drehte, die Haustür wurde aufgestoßen und da stand er, mein Vater. Er hatte im Kohlenschacht wohl einen Unfall gehabt, sein rechter Arm war in Gips gelegt, hinter ihm der Arzt, der sich augenblicklich verabschiedete.
Die Welt stand still in dem Moment. Mein Vater, ein großer Typ, stand still wie eingefroren. Der nächste Schlag kam nicht mehr. Alles um mich herum war irgendwie eingefroren, für immer bewegungslos.
Dann vier schnelle Schritte von ihm und er riss die Klopp-Peitsche an sich, rannte raus aus dem Haus mitten auf die Hauptstraße und schmiss sie soweit er nur konnte.
Meine heulende Mutter zog mich zur Seite. Ich versuchte hastig meine Hose hochzuziehen und starrte meinen Vater an. Er kam näher, Schritt für Schritt, wie ein Tiger. Es war still im Hausflur. Seine Augen waren für eine Ewigkeit auf Paula fixiert, ich sah ein paar Autos auf der Hauptstraße hinter ihm ins Bild kommen und wieder verschwinden. Er blieb stehen ganz nahe vor ihr, ein Riese von Mensch.
Die nächsten Worte werde ich nie in meinem Leben vergessen.
„Wenn du meinen Sohn noch einmal schlägst, dann werde ich ein großes Messer nehmen und dich abschlachten. Und ich werde es genießen.“
Dann wurde es wieder still und er stand eine lange Zeit vor ihr, drehte sich plötzlich zur Seite und ging ins Wohnzimmer zum Esstisch. Meine Großmutter verschwand sofort. Meine Mutter stellte den großen gefüllten Teller vor ihm ab. Es wurde nicht mehr gesprochen. An diesem Tag wurde überhaupt nicht mehr gesprochen. Eine gespenstische Stille breitete sich aus.
Von diesem Tag an wurde nie mehr über diesen Vorfall gesprochen. Meine Großmutter hat mich nie mehr berührt oder geschlagen. Die verbalen Beschimpfungen hörten allerdings nicht auf. Es wurde eigentlich noch schlimmer, aber nie wenn mein Vater in der Nähe war. Am Sonntag, seinem freien Tag, senkte sich eine wunderschöne Harmonie über dieses Haus. Es war ruhig und friedlich.
Mein Vater war ein liebevoller Mann. All die anderen Tage der Woche blieb es immer noch die gleiche Hölle.
Es gibt noch andere Geschichten aus dieser Zeit, an die ich mich erinnere als ob sie Gestern passiert sind.
Mein Großvater, Ludwig:
Ich denke ich war so elf Jahre alt oder auch zwölf und es war ein Sonntag. Ein Sonntag hatte eigentlich immer denselben Ablauf. Ich durfte mich nicht dreckig machen und durfte kein Fußball spielen.
Am Sonntagmorgen musste ich mit meiner Mutter und meiner Großmutter zum Gottesdienst in die Barbara Kirche gehen. Ich musste einen Anzug tragen, den ich hasste. Mutter und Großmutter trugen ihre besten Kleider und rochen stark nach Parfüm. Dann ging‘s ab zur Kirche zum 8 Uhr Gottesdienst, danach zurück nach Hause, immer pünktlich um 10 Uhr da ankommend.
Meine Großmutter kam um 7 Uhr 45 runter aus dem ersten Stock, ging zum Wohnzimmerschrank, öffnete die Tür und nahm eine kleine Schachtel heraus. Die gute Uhr wurde jetzt angelegt. Die andere Uhr wurde in die Schachtel gelegt. Diese Uhr wurde von ihr nur für die Kirche getragen, eine wunderschöne Longines Gold Armbanduhr. Meine Großmutter hatte sie 1919 zur Hochzeit von ihrer Mutter bekommen.
Ein letzter Blick auf die schöne goldene Uhr und wir gingen los zur Kirche.
Ich hasste diese Sonntage und zur Kirche zu gehen, aber ich hatte keine Wahl. Mein Vater ging nie zur Kirche und blieb im Haus mit meinem Großvater.
10 Uhr zurück im Haus, immer dieselbe Zeremonie. Gute Uhr zurück in die Schachtel, alte Uhr ans Handgelenk, jeder wechselte die Kleidung und meine Großmutter begann zu kochen. Meine Mutter durfte nur helfen. Gekocht wurde von Paula.
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