Irgendwann nach einer Stunde und noch einem Joint war er dann endlich bereit zu sprechen und wollte wissen, was wir von ihm wollten.
Er nahm Irmgards Notizbuch, blätterte es durch und gab‘s ihr zurück mit der Bemerkung:
„Alles Mist. Das vergiss mal lieber.“
Dann ging‘s los und Irmgard begann fleißig zu schreiben und diesmal hörte ich zu. Der Typ war einfach faszinierend zu beobachten und natürlich halfen die Joints, die er mittlerweile mit mir teilte. Dieser Typ wusste wirklich alles. Welchen Bus man in Istanbul nehmen muss, Puddingshop, Casablanca Steakhaus in Kabul, welcher Zug nach Pakistan. Wie viel was kostet und alle Adressen von den billigsten Hotels.
Die erste Stunde brachte er kein Wort raus, die nächsten fünf Stunden konnte keiner den Redefluss stoppen. Und natürlich halfen die vielen Joints. Spät nachmittags dann zurück per U Bahn und ich total zugekifft in die Oranienstraße.
Die beiden Rucksäcke waren mittlerweile voll, wurden jeden Tag wieder geleert und neu gepackt und die roten Nadeln formten eine klare Linie von Berlin über die Türkei, Iran, Afghanistan, Pakistan, Indien, Bombay, Goa, Kerala und dann wieder hoch bis Nepal.
Die letzte Woche war dann eigentlich nichts mehr zwischen uns. Keine Nacht mehr mit ihr und das schon die letzten Wochen. Ich saß für eine Stunde mit denen rum, sie beobachtend und danach zurück in meine Bude. Für mich ging‘s weiter mit dem Studium und manchmal nachts auszuhängen im Max und Moritz, einer linke Kneipe in Kreuzberg.
Der Sonntag vor ihrer Abreise, ein wichtiger Tag wie sich später herausstellte. Petra, sie hatte drei Jahre zuvor mit mir ihr Abitur am Berlin Kolleg gemacht, rief mich Tage vorher an um mich zu ihrem Geburtstag einzuladen. An diesem Sonntagmorgen, ein Sektfrühstück um acht Uhr. Mit der U-Bahn an diesem Morgen nach Schöneberg, es schneite in Berlin, die Hauptstraßen waren alle schon geräumt. Die Nebenstraßen versteckten sich immer noch unter einer flauschigen weißen Schneedecke.
Ein Super Tag. Er fühlte sich an wie ein neuer Anfang. In mir hatte Irmgard ihre Reise bereits angetreten. Wie eine Zauberfee hatte sie mein Leben drei Monate zuvor betreten, hatte so viele Türen in mir geöffnet, von denen ich gar nicht wusste, dass es sie überhaupt gab. Und so verließ sie auch mein Leben, wie ein Traum und man wacht am nächsten Morgen auf und fragt sich:“ War das wahr? War das real?“ Irgendwie hatte ich auch immer gewusst, dass es genauso sein würde, ein langer wunderschöner Traum und dann eines Tages das Aufwachen.
Es war arschkalt in Berlin an diesem Morgen. Ich betrat Petras Wohnung, alle ihre besten Freunde saßen bereits an dem großen Tisch, der mit dem Besten an Käse, Wurst, Eiern, Croissants und Baguette beladen war. Die ersten Flaschen Sekt waren bereits geöffnet.
Ich gab ihr mein kleines Geschenk, ein Buch über die Deutsche - Räte Bewegung 1918/19. Ich wusste sie würde es mögen. Es ist schwierig die nächsten drei Stunden zu beschreiben. Studenten machen was sie immer machen - wild über die Gesellschaft diskutieren, über Freiheit und Gleichheit, über Veränderung, unsere Politiker und die Polizei, das Studium und das alles extrem intellektuell, gespickt mit superschlauen Worten. Das hatte ich ja gelernt in den letzten fast drei Jahren und so ging‘s dann los, in dem Moment an dem man an diesem Tisch Platz nahm. Jeder hat natürlich seine eigene Meinung und die verteidigt man bis fast aufs Blut.
Ich war die erste Stunde voll dabei, nur manchmal einen Moment die Schneeflocken vor ihrem Küchenfenster bestaunend die langsam am Fenster vorbeiglitten. Es sah draußen einfach so herrlich friedvoll aus. Ich wurde ruhiger und ruhiger, nahm nicht mehr an den verbalen Schlachten vor mir teil, begann diese Menschen zu beobachten, während sie ihre schweren Wortmaschinen in Stellung brachten, sie aufeinander abfeuerten. Eine Schlacht tobte da vor mir und getrennt durch eine kleine Glasscheibe schwebten da diese kleinen Kristalle vorbei, vom leichten Wind getragen und niemand sah es.
Petra erschien neben mir mit einem Sektglas:
„Du bist so ruhig. Muss ich mir Sorgen machen um dich? Es ist mein Geburtstag. Kannst du lächeln?“
Mit ihr konnte ich lächeln, eine wunderschöne Seele, die an diesen scheiß- verbalen Schlachten nicht teilnahm. Das war alles so fürchterlich langweilig vor mir. Keiner hörte dem anderen zu. Die Worte waren einfach nur Worte, die keine Bedeutung hatten, keinen Inhalt. Dahinter Menschen, die ganz anders waren. Die Worte hatten einfach keine Verbindung mehr zu diesen Menschen, die ihren Mund öffneten - es floss etwas Sinnloses raus und niemand merkte es.
„Rede ich auch so?“
Ich begann mich zu wundern.
„Rede ich auch so einen Unsinn?“
Ich folgte dieser Schlacht, von Person zu Person, sah mir ihre Gesichter an, die alle so starr waren. Wie Masken, die alles verbergen, was dahinter ist. Eine Frau mir gegenüber war an einer feurigen Diskussion beteiligt. Ihre Augen blinzelten raus aus ihrer Maske, tanzten wild und eingeschüchtert in dem kleinen Raum der Augenlöcher und sie war traurig, nahe dem Heulen. Warum ist das so? Haben wir das alle?
Je weicher das Innere, desto härter das Äußere, die Maske. Und sie hatten alle Masken die auch rein gar nichts mit dem inneren Menschen zu tun hatten.
Der Moment war dann genug für mich und ich wollte nur noch raus, weg von hier. Ich stand auf und ging rüber zu Petra:
„Sorry, aber ich muss jetzt gehen. Hab noch an meiner Arbeit zu schreiben. Happy Birthday und es war so schön hier mit dir zu sein.“
Meine Maske und es tat mir irgendwie um Petra leid. Aber ich musste einfach raus. Ich war in einer Sekunde draußen, stand auf dem Bürgersteig. Schneeflocken tanzten ihren langsamen Foxtrott um mich herum, hüllten mich ein, nahmen mich in die Mitte. Die Straße vor mir zeigte keine Reifenspur, soweit das Auge reichte eine sanfte Schneedecke.
„Oh wie schön ist das, atemberaubend.“
Und dann zwei Gedanken.
„Was Irmgard machen kann, das kann ich auch.“
„Ich gehe nach Indien und das alleine.“
Nur diese zwei Gedanken und mein Leben wurde in neue Bahnen gelenkt. 50 Meter zur linken Seite eine Telefonzelle, mit Schnee bedeckt und da musste ich hin.
Was musste ich machen, um schnell aufzubrechen? Es ging zur Zelle durch den Schnee, schnell mein Notizbuch suchend, ein Anruf, ich hatte mir seine Nummer aufgeschrieben.
Klar nahm er den Hörer nicht direkt ab, aber ich ließ es klingeln und klingeln. Und nochmal wählen und wieder klingeln lassen, bis endlich nach einer Weile, der bayrische Akzent sich auf der anderen Seite meldete.
„Was willst du?“
„Ich bin‘s. Karl. Erinnerst du dich? War vor zehn Tagen bei dir mit den beiden Frauen?“
„Ja klar. Was willst du?“
Ich will in sieben Tagen nach Indien aufbrechen. Alleine. Ich brauche deine Liste. Kann ich sofort kommen?“
Stille in der Leitung.
„Dann komm mal lieber schnell. Ich warte auf dich.“
Ein drei Stunden Sektfrühstück, ein Tanz von Schneeflocken und zwei Gedanken. Mein Leben wechselte die Spur, nahm eine neue Wendung.
Diesmal wartete er auf mich. In seiner dreckigen Küche gab es Kaffee und es wurde sofort ein Joint gebaut. Aber diesmal nicht für mich. Ich musste einen klaren Kopf behalten. Er saß da, als ob er seine Küche in den letzten Tagen nie verlassen hatte. Er hatte bereits mit meiner Liste begonnen, schön vom Anfang an mit Berlin.
Er gab mir ein Blatt Papier:
„Habe die Liste bereits angefangen und du schreibst alles nieder was ich dir jetzt sage. Warum fährst du jetzt? Willst du ihr folgen?“
„Nein will ich nicht. Ich fahre allein. Ich werde ihr auch nichts sagen. Es geht nicht um sie. Ich fahre. Ich will sie auch unterwegs nicht treffen.“
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