Er langte in die Innentasche seiner Windjacke, um die Ausweise hervorzukramen, sagte plötzlich »Nanu?«, und warf Sabine einen fragenden Blick zu. »Ist was?«, fragte sie. Ihr Gesicht wurde ängstlich. »Sag mal, Kevin — der Bursche hat dich doch wohl nicht etwa angerempelt, um dir in die Tasche zu langen und dich zu bestehlen?«
»Ganz im Gegenteil«, sagte Kevin und schüttelte den Kopf. »Er hat mir etwas zugesteckt!«
»Er hat...«
Er zog die Hand aus der Tasche und hielt seiner Schwester ein kleines, durchsichtiges Beutelchen unter die Nase. Es war so klein wie eine Streichholzschachtel und enthielt ein weißes Pulver. »Was ist das denn?«, fragte Sabine naiv. »Mehl?« Es kostete Kevin einige Schrecksekunden, bis er die Sprache wieder fand. Er ließ das Beutelchen blitzschnell in der Jackentasche verschwinden und krächzte: »Mensch, Sabine — hast du denn noch nie einen Kriminalfilm gesehen? Hier will uns jemand reinlegen! Und wenn ihm das gelingt, können wir für die nächsten Jahre Tüten kleben!«
»Tü...« Sabine war sprachlos. Es war allerdings ein Glück für die beiden, dass sie deutsch miteinander sprachen, denn die vor ihnen in der Schlange wartenden Passagiere wurden aufmerksam und blickten sich um.
Mit versteinerten Gesichtszügen flüsterte Kevin: »Ich bin sicher, dass das Zeug in dem Beutel Rauschgift ist. Der Kerl muss es mir in die Tasche geschoben haben, als er gegen mich fiel. Vielleicht hat er im letzten Moment Angst vor der Zollkontrolle bekommen oder so.« Er schüttelte den Kopf und machte dabei sein pfiffigstes Gesicht.
»Du musst das Zeug auf der Stelle loswerden, Kevin«, sagte Sabine entschlossen. »Wir kommen in Teufels Küche, wenn man es bei dir findet.« Sie schaute sich vorsichtig nach allen Seiten um. Die Schlange vor ihnen war ziemlich lang. Offenbar hatte der britische Zoll einen Tipp bekommen, denn die Uniformierten ließen sich gnadenlos den Inhalt
jedes einzelnen Koffers zeigen. Wenn alles in diesem Tempo weiterging, hatten sie noch etwa zehn Minuten Zeit, bis sie an die Reihe kamen.
Kevins Blick fiel auf die Stuhlreihen des Warteraums. Es gab nicht viele Möglichkeiten, hier etwas zu verstecken. Die Wände waren kahl und größtenteils gläsern. Sein Blick fiel auf einen etwa fünfzig Zentimeter hohen Aschenbecher aus Blech, dessen Ablage mit Sand gefüllt war. Wenn er geschickt vorging, konnte er den Aschenbecher mit drei Schritten erreichen und so tun, als wolle er eine Zigarette ausdrücken. Die meisten Passagiere unterhielten sich oder suchten nach ihren Papieren. Blödsinn, dachte Kevin, ich fange schon an zu spinnen. Wer sollte denn auf mich achten, wenn ich einfach zu dem Aschenbecher hinüberschlendere und das Beutelchen im Sand verschwinden lasse? Er nickte Sabine zu, ließ die Reisetasche zu Boden gleiten, zog das Beutelchen mit verdeckter Hand aus der Jacke und ging nach rechts. Sein Herz klopfte zum Zerspringen, und er glaubte, man müsse seinem Gesicht nahezu ansehen, was er vorhatte. Er überzeugte sich mit einem schnellen Rundblick davon, dass niemand ihn beobachtete, und schob das gefährliche Päckchen rasch in den mit Kippen übersäten Sandbehälter. Puh! Er atmete erleichtert auf. Dennoch zitterte er und fühlte vor Aufregung eine leichte Übelkeit.
»Alles klar«, flüsterte Kevin Sabine zu, nachdem er sich wieder hinten angestellt hatte, »ich bin das Dreckszeug los.«
Als sie endlich an die Reihe kamen, geschah etwas Sonderbares. Die Zöllner schlossen die Sperre ab und wandten sich ihnen zu. Es waren vier Mann mit harten Gesichtern, und einer davon zog jetzt seine Pistole.
»Was...«, stammelte Kevin entsetzt. Hatte man ihn etwa doch beobachtet?
»Ihre Ausweispapiere, bitte«, sagte einer der Uniformierten mit gefühlloser Stimme und streckte Sabine die Hand entgegen. Zu Kevin gewandt, sagte er: »Sie lassen Ihre Hände bitte aus den Taschen und folgen meinen Kollegen in den Nebenraum.«
»Was wollen Sie von uns?«, fragte Sabine aufgeregt. »Wir haben doch nichts getan!« Sie warf Kevin einen hilflosen Blick zu. Wer würde ihnen glauben, wenn sie sagten, dass ein Fremder ihnen das Rauschgift zugesteckt hatte?
»Das werden Sie gleich erfahren«, sagte der Zöllner und gab seinen Kollegen einen Wink. Kevin ging mit roten Ohren vor den Männern her, während der letzte Zöllner ununterbrochen eine Pistole auf ihn gerichtet hielt. Er kam sich vor wie ein Schwerverbrecher.
Sie brachten ihn in einen büroartig eingerichteten Raum und schlossen die Tür.
»Ihren Ausweis«, sagte der Zöllner mit der Pistole. Kevin langte sorgsam in die Innentasche seiner Windjacke und bemühte sich, bloß keine verdächtig wirkende Bewegung zu machen. Er wusste aus der Zeitung, dass Rauschgifthändler vor nichts zurückschreckten. Die Zöllner waren sichtlich nervös. Hoffentlich verlor keiner von ihnen die Nerven. Kevin gab seine Papiere ab und wartete darauf, dass man ihn auf forderte, sich zu setzen. Aber er hatte sich verrechnet. Der Zöllner mit der Pistole forderte ihn auf, sich mit erhobenen Armen gegen die Wand zu lehnen und die Beine zu spreizen. Kevin tat, wie ihm geheißen. Er fühlte eine leise Wut, die seine Angst beinahe überdeckte. Ein anderer Zöllner tastete ihn ab. Man nahm offenbar an, dass er eine Waffe versteckt hatte.
»Sie sind Deutscher?«, fragte einer der Zöllner vom Schreibtisch her. »Wie kommen Sie an einen britischen Namen?«
»Mein Vater...«, stammelte Kevin, der immer noch nicht wusste, wie ihm geschah. »Er ist Schotte. Ich bin aber in Deutschland geboren.«
»Aha«, machte der Uniformierte und vertiefte sich wieder in die Papiere. Der vierte Zöllner betrat nun das Büro. Die Männer tuschelten hinter Kevins Rücken. Einer sagte: »Ziehen Sie sich aus.«
»Waaas?«, fragte Kevin und wirbelte herum. »Pudelnackt?«
Der Mann hinter dem Schreibtisch meinte: »Das wird unerlässlich sein, Mister McIntyre.«
»Na, hören Sie mal«, sagte Kevin. »Wessen beschuldigen Sie mich denn?«
»Tut mir leid«, sagte der Mann hinter dem Schreibtisch. »Wir haben unsere Vorschriften.«
Kevin seufzte. Schließlich gelangte er zu der Einsicht, dass es am besten war, wenn er keinen allzu großen Aufstand anzettelte. Er war unschuldig. Wenn er tat, was die Zöllner von ihm wollten, ließen sie ihn wahrscheinlich schneller wieder laufen. Er dachte an den Burschen im Nadelstreifenanzug und kam plötzlich auf die Idee, dass es kaum ein Zufall sein konnte, dass die Zollbeamten sich ausgerechnet auf ihn konzentrierten. Wahrscheinlich hatten sie einen Tipp bekommen, hatte der Kerl im Nadelstreifenanzug sie sogar von der Halle aus angerufen und ihnen einen Drogenhändler angekündigt.
Kevin dachte an die gestohlenen Koffer und versuchte einen Zusammenhang zwischen ihnen und dem ihm zugesteckten Rauschgiftpäckchen herzustellen. Wer konnte ein Interesse daran haben, ihm derlei Schwierigkeiten zu bereiten? Natürlich fanden die Zollbeamten nichts, was Kevin hätte belasten können. Als er sich angezogen hatte, herrschte einige Sekunden lang peinliches Schweigen. Der Mann hinter dem Schreibtisch gab Kevin die Papiere zurück, räusperte sich verlegen und sagte entschuldigend: »Verzeihen Sie, Sir, aber wenn wir Hinweise erhalten, müssen wir ihnen nachgehen. Es tut mir außerordentlich leid, und ich hoffe, dass Sie keinen Grund haben, sich über uns zu beklagen.«
Kevin zuckte die Schultern und sagte: »Schon gut, ich verstehe Sie.« Er schlüpfte in seine Windjacke. Einer der Uniformierten brachte ihn durch die mittlerweile völlig verwaiste Sperre.
Sabine erwartete ihn in dem dahinter liegenden Korridor und stürmte, als sie ihn kommen sah, aufgeregt auf ihn zu. »Da bist du ja endlich! Ich dachte schon, die würden dich überhaupt nicht mehr laufen lassen!«
Kevin atmete erleichtert auf. »Hier ist irgendeine Schweinerei im Gange, Sabine«, sagte er. Er blickte sich misstrauisch nach allen Seiten um. Der Gang, der in die Haupthalle führte, war aber völlig leer. »Irgendjemand scheint ein großes Interesse daran zu haben, dass wir nicht nach Laggin Castle gelangen. Was uns bisher passiert ist, kann kein purer Zufall gewesen sein.«
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