Das Eigenheim entstand wie in diesen Kreisen üblich zum Großteil mit günstigen Krediten des Arbeitgebers sowie der dahinterstehenden Wohlfahrtsmaschinerie, ein freilich nur scheinbarer Akt der Güte, denn erwartet wird im Gegenzug selbstverständlich die entbehrungsreiche Eigenleistung – und zwar über viele Jahre, denn man baut nicht nur sein eigenes Haus, sondern in Solidargemeinschaft an der ganzen Siedlung mit, bis auch das letzte Haus steht; und vor allem die Mutter gewöhnt sich nie wirklich an das nur scheinbar Neue, was noch eine Weile durch ihre Berufstätigkeit kaschiert wird. Doch dann wird ausgerechnet der Vater, den normalerweise so schnell nichts umwirft, krank, muss fast ein Jahr aussetzen - erste Vorboten für das Kommende, die natürlich nicht als Solche erkannt werden dürfen: Die ausfallenden Stunden am Bau werden postwendend finanziell beglichen aus dem Familienkreis - neue Verpflichtungen, noch mehr gute Miene, noch längere Sonntagnachmittage im trauten Kreis im neuen Haus, noch mehr zähneknirschend absolvierte Gegenbesuche, noch weniger Zeit für sich selbst.
In Wahrheit war man einem damals schon rezessiven Industriezweig ausgeliefert, inklusive der diesem innewohnenden gesellschaftlichen Stagnation. Die Kohle, einst der Rohstoff zur Anfachung sowie Befeuerung wirtschaftlicher Dynamik, gereichte im Privaten wohl eher zum Synonym einer anheimelnden Immobilität. Es gab wohl vor allem in harten Wintern kein besseres Heizmittel, aber, wenn man sich länger als einen Tag von zu Hause entfernt hatte, war der Ofen aus. Eine heile Siedlungswelt, wo in der großen Mehrzahl der Familien die Frauen nicht berufstätig waren, die meisten auch ein gutes Stück älter als seine Eltern.
Und dann stehen plötzlich die siebziger Jahre vor der Tür, und es hätte eine Chance sein können, zum immer noch allgegenwärtigen Muff zumindest auf Distanz gehen zu können. Natürlich, der gesellschaftliche Wandel zu Beginn dieses Jahrzehntes wirkt verlockend. Aber wie dieser jenseits der beim Arzt ausliegenden Zeitgeistmagazine zu vollziehen sei, hatte ihnen niemand verraten, und so stand er, falls er über das Materielle hinaus überhaupt wahrgenommen wurde, von Anfang an auf tönernen Füßen. Dieses ständige „gegen Windmühlen anrennen“ durch einen klaren Schnitt, einen Tabubruch innerhalb der eigenen Reihen zu ersetzen, würde viel Kraft und Selbstvertrauen erfordern – und vor allem unverrückbare Standpunkte, Überzeugungen, die dann auch gelebt werden müssten. Gelegentlich fällt der Blick dann auch allzu zwangsläufig und unkritisch dorthin, wo Andere Solches für einen zu erledigen scheinen - was stellenweise zu manch grotesker Fehldeutung führte. Eine zumindest unterschwellige Koketterie beispielsweise für diese tolle Sportnation, dieses Arbeiterparadies auf der anderen Seite des Horizontes, wo der gesellschaftliche Anschluss für Leute ihres Schlages scheinbar von Staats wegen angestrebt wurde, war in manchen Momenten mehr als spürbar.
Die Mutter denkt überdies - und das wird sich mit zunehmender Zeit als wirklich fataler Irrtum herausstellen -, man könne durch einen gewissen Aktionismus, der sich fast ausschließlich in übertriebener Zuvorkommenheit ergeht, bei Leuten, die man für wichtig hält, Augenhöhe erzwingen, greift dabei auf gesellschaftlicher Ebene – oder, was man dafür hält - nach jedem Strohhalm. Dass es sich bei diesen Leuten, beispielsweise denen vom Sportverein, überwiegend um jene Sorte Djangos handelt, die man für gewöhnlich in Linienbussen unaufgefordert ihre Monatskarten vorzeigen sieht, und die in Gestalt seiner Mutter nun die willkommene Projektionsfläche für ihre spießbürgerlich bedingten Unausgelebtheiten gratis präsentiert bekommen - um das zu erkennen, ist sie zu naiv und gerät so in eine Art von Zugzwang, der sie mit zunehmender Zeit immer weniger gewachsen ist. Sie bemerkt nicht, dass sie von diesen Leuten nur zum Zeitvertreib gelitten wird. Und so bleibt der angepeilte Anschluss an ein bürgerlich geprägtes Umfeld letztendlich doch immer und bis zuletzt auch ein Buch mit sieben Siegeln. Das Rüstzeug fehlt, und so sucht und versucht sie sich stets an den falschen Stellen - ein Wesenszug, den Arnold erben wird, und der ihn im Grunde genommen bis heute beeinträchtigt.
Arnolds Mutter will jetzt den Durchmarsch zu neuen gesellschaftlichen Sphären erzwingen – koste es, was es wolle - und als ultimativen Türöffner hat sie sich Arnold auserkoren, weil sie dessen Entwicklung schlicht für planbar hält. Und dafür soll ein breitgefächerter, aufwendiger Anlauf genommen werden. Sie will ihn wohlbehütet auf dem Gymnasium sehen, nichts soll den Bildungsweg des Sohnes, in dessen Fahrwasser sie sich anschließend sonnen will, stören. So werden Elternversammlungen für sie bereits zu Eventveranstaltungen, nach deren Besuch sie schwadroniert, wen sie da alles getroffen habe - bei denen sie den Kontakt zu der Realität, die gerade dort beleuchtet werden soll, aber mit der Zeit vollends verliert.
Sie gibt irrwitzigerweise sogar ihre Stelle in der Kinderklinik auf - und merkt noch nicht, dass sie damit sich selbst aufgibt. So tauscht sie den unsäglichen Vorzug, einen professionellen Umgang mit Leben und Tod pflegen zu dürfen, gegen vermeintliche Verheißungen ein, die sie letztendlich endgültig dort festnageln, von wo sie auf – und vor allem ausbrechen wollte – im trauten Heim nämlich, wofür sie aber nicht geschaffen scheint.
Die Bedürfnisse seiner Mutter sind, nicht nur, was diese Art von Familienleben angeht, so nicht wirklich zu befriedigen, sind vollkommen anders gelagert. Sie will stets den Königsweg, bevorzugt die ins Vulgäre reichenden Boulevard-Komödien, die neuerdings zumeist samstagabends am Fernseher laufen, geht dafür sogar mit Arbeitskolleginnen gelegentlich ins Theater zu jener Zeit. Das nahezu stereotyp den Leuten aus ihrer unmittelbaren Umgebung insinuierte Mittelmaß bereitet ihr Probleme; sie braucht die Premium-Etikette, will – wenn es denn sein muss - die Beatles hören und bitte nicht die Rolling Stones, will ein Bild von Monet und gefälligst nicht von Manet an der Wand, obwohl sie die gar nicht auseinanderhalten könnte - während der Vater die Rolle des Hauptmann von Köpenick auch mit Rudolf Platte passabel besetzt findet… Sie macht sich lustig über Verschwörungstheoretiker, duldet innerlich keine Philosophie des Zweitbestentums, ängstigt sich vor Sekundärtugenden, bevorzugt den handfesten, authentischen Witz mit dem schweren, unverrückbaren Unterbau, beispielsweise zum Fasching; sieht sich „Mainz bleibt Mainz, wie es singt und lacht“ jedes Jahr alleine von Anfang bis Ende an. Subkulturen sind ihre Sache so wenig wie diese Jammertäler von zur Schau gestellter Bescheidenheit, hinter denen sie schlicht Minderwertigkeitskomplexe vermutet.
In einem gewissen Widerspruch zu diesem Wesen steht ihr Männerbild generell, welches offensichtlich ohne, in der Phantasie herbeifabulierte, sogenannte „Mannsbilder“ auskommt – auch Seitensprünge sind an ihr schwer vorstellbar -, das vielmehr von dem männlichen, in einer vermutet hohen Sphäre, jedenfalls über allen Kalamitäten des Lebens schwebenden Neutrum genährt wird. Wahrscheinlich hätte sie tatsächlich besser auf einen Arzt gewartet. Jedenfalls lebt sie regelrecht auf in Gesellschaft von eigenschaftslosen, alterslosen Studenten beispielsweise, bei denen sie eine Zukunft insinuiert, die ihr selbst versperrt ist. So wie bei dem, der nach dem Tod ihrer Schwiegermutter bei ihnen wohnt beispielsweise; den hatte der Vater im Tischtennisverein kennengelernt, und der entführt den Vater nach dem Samstagabend zumeist spät beendeten Tischtennismatch gelegentlich in alternative Lokale - in denen der Vater vermutlich weniger auffällt als der Student selbst. Er schenkt dem Vater eine Langspielplatte von Herb Alpert zum Geburtstag.
Und dann wird sie endgültig dorthin zurückbefohlen, wo all das wieder abverlangt wird, was sie schon längst innerlich über Bord geworfen hat. Spät – sie ist gerade beim Übergang von Lonarid mit Wasser zu Valium vor Cognac - kündigt sich noch ein Kind an. In Bezug auf den eigenen gehegten gesellschaftlichen Anspruch hat man sich nun selbst überlistet. Freunde hat man nun keine mehr, jedenfalls nicht die, die man zu brauchen glaubte. Das mag undramatisch und in gewisser Weise auch selbstverständlich klingen für viele, die mit den Begleiterscheinungen des Kinderglücks konfrontiert sind, doch ist es unerträglich für jemanden, der den erhöhten und dadurch erst als blühend empfundenen Moment, die zwischenmenschlichen Finessen, die Aperçus und Bonmots stets inhaliert hat wie eine Droge und nun wie beim Monopoly wieder auf Anfang gesetzt wird.
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