Am selben Tag beginnen sie zu arbeiten: Angelika als Aushilfe in einem nahegelegenen Kindergarten für russische Immigrantenkinder, Arnold in der Fabrik im Schichtdienst. Die nächsten Monate weiß er manchmal nicht mehr, ob er das alles erlebt oder nur träumt. Sehr viel hat sich fast schlagartig verändert. Die Arbeit in der Fabrik setzt ihm zu, wobei es weniger der Schichtdienst ist - schon während seiner Militärzeit hatte er in Schichten gearbeitet auf einer Funkstation. Auch, was die Arbeitsinhalte selbst angeht, gibt es aufgrund seiner wie gesagt soliden, autodidaktisch erworbenen Halbbildung im Automobilsektor ebenfalls wenig Probleme. Die Frage stellt sich nun irgendwann, ob er in diesem Bereich, der nicht seinem erlernten Beruf entspricht, bleiben soll. Aber bereits nach relativ kurzer Zeit bietet man ihm einen Zeitvertrag. Entscheidend ist, wo man arbeitet, nicht so sehr, was man arbeitet, dieser Satz wird von da an sein Credo, und er bleibt. Die Tatsache, dass er auf der Suche nach einem Job als studentische Hilfskraft ausgerechnet die beste aller Möglichkeiten in dieser Hinsicht getroffen hat, betrachtet er dabei als Wink mit dem Zaunpfahl; es wäre wirklich idiotisch, jetzt ohne Not abzuspringen. Außerdem bestünde auch hier wahrscheinlich noch die Möglichkeit, irgendwann später in einer IT-Abteilung des Betriebs einzusteigen, doch seine innere Stimme sagte ihm damals schon, dass er es nie versuchen werden würde.
Dass er mit seiner anfänglichen Idee trotzdem nicht gänzlich falsch lag, dafür erhält er erst gut ein Jahr später die Bestätigung, als ein Antwortschreiben auf eine Bewerbung, die er bereits abgeschrieben hatte, im Briefkasten liegt: Der Personalchef einer mittelständischen Firma, die jemanden sucht für die Programmierung von Dieselmotor-Prüfständen, will ihn zum Vorstellungsgespräch einladen; doch dafür ist es dann aus seiner Sicht schon zu spät. Er befindet sich zwar noch im Zeitvertrag, trotzdem erscheint ihm der Absprung von einer großen Firma zur kleinen hin jetzt als zu riskant. Er ist Mitte dreißig und kann sich keine allzu umfangreichen Kapriolen mehr erlauben.
Angelika ist in ihrer neuen Arbeit ebenfalls sehr eingespannt, auch sie verdient bereits nach einigen Wochen gutes Geld, soviel, dass Arnold sogar einen ernsthaften Anlauf unternimmt, zu sparen, denn sie wissen von Beginn an schon, dass Angelikas Job auf ein Jahr befristet sein wird; das ist von der Stadtverwaltung ohne Ansehen der Person so geregelt. Es wird freilich auch schon der letzte Versuch sein, den er jemals unternehmen wird, denn irgendwann tritt Angelikas Tochter, die gerade die Beziehung zu ihrem Freund auf Angelikas Druck hin beendet hat, mit den damit verbundenen Notwendigkeiten verstärkt in den Fokus. Sie arbeitet überwiegend in Spielotheken zu dieser Zeit, was natürlich kein Dauerzustand bleiben soll.
Zudem muss auch er allmählich damit beginnen, seinen eigenen Investitionsstau, der sich - sei es, was Kleidung oder beispielsweise Mobiliar betrifft - über die Jahre an der Universität gebildet hat, abzuarbeiten. Das alles hört sich wesentlich leichter an, als es ist, für jemanden, der, obwohl er nie etwas besessen hat, gleichwohl niemals sparen gelernt hat.
Im Jahr darauf leisten sie sich den ersten gemeinsamen Urlaub, der zeitlich über einen Wochenendtrip hinausgeht, im Sommer an die belgische Küste nach Ostende. Sie wohnen in einem ehemaligen Thermalbad direkt am Strand, das irgendwann zum Luxushotel umdefiniert wurde – und das sogar noch zu erträglichem Preis -; bereits ein Jahr später wird ein etwaiger Aufenthalt über eine Woche hinaus dort infolge einer erneuten Sternekategorisierung nahezu vollkommen unerschwinglich sein. Ihm kommt der Urlaub gerade recht; vor ein paar Wochen erst hatte er einen üblen Arbeitsunfall glimpflich überstanden und kann sich hier auskurieren. Das frische Klima tut ihm gut; der ständige Wind - er ist zum ersten Mal an der Nordsee - nervt allerdings. Die Qualität des Meerwassers scheint zwar undefinierbar zu sein, befindet man sich doch am ausgehenden Kanalufer, einer der immer noch am meisten frequentierten Schifffahrtsrouten weltweit, aber das bietet dann auch andere Möglichkeiten, beispielsweise mit dem Katamaran einen Tagestrip via Ramsgate nach London zu unternehmen. Angelika ist so etwas wie erwartet nicht zu vermitteln. Sie verbringt die meiste Zeit in dem direkt an das Hotel angrenzenden, kombinierten Hallen-Freibad.
Das Meeresklima ermüdet, was bei ihnen dazu führt, dass sie abends rechtzeitig zu Bett gehen, und bei ihm der daraus resultierende positive Effekt zu verzeichnen ist, dass er wenigstens für annähernd zwei Wochen einen geregelten Tagesablauf hat. An die Tatsache an sich, auf Dauer jeden Morgen neben jemandem aufzuwachen, könnte er sich wohl - wenn überhaupt - nur schwerlich gewöhnen, das wird ihm in diesem Urlaub ebenfalls klar. So wird es auch schon der letzte über ein Wochenende hinaus sein, den sie miteinander verbringen.
Zurück aus dem Urlaub muss nun zunächst dringend eine Lehrstelle für Angelikas Tochter besorgt werden. Diese hatte irgendwann damit begonnen, ihn „Vater“ zu nennen und tut das bis heute offensichtlich ohne Not. Also kümmert er sich auch um sie.
Eines Tages stößt Arnold auf eine für sie passgenaue Stellenanzeige: Eine große Hotelkette wird am Rande des Stadtparks in der City ihre neue Zentrale errichten und sucht Auszubildende. Angelikas Tochter hatte schon in ihrer früheren Heimat das Hotelfach erlernt mit Abschluss, doch der wird hier nicht vollständig akzeptiert, bestenfalls ein halbes Lehrjahr bekommt sie deswegen erlassen. Sie von der Notwendigkeit einer solchen Maßnahme zu überzeugen gestaltet sich fast schwieriger als die nachfolgende Ausbildung zur Hotelfachfrau selbst.
Nach zähen Diskussionen bringt er sie dazu, sich zu bewerben, und sie kommt schließlich auch dort unter.
Das Hotel liegt für öffentliche Verkehrsmittel etwas ungünstig, und die Leerlaufzeiten, die in der angeschlossenen Gastronomie zwangsläufig nachmittags entstehen, sind lang, sodass er sie, die zu der Zeit, als der Betrieb losgeht, noch keinen Führerschein hat, oftmals hinbringt oder abholt. Da der Chef der Hotelkette selbst im Haus wohnt und gleichzeitig Präsident sowie Sponsor des städtischen Fußballklubs ist, wird dort oft bis spät in die Nacht getagt, und sie muss dann, obwohl Auszubildende, offenbar auch bis zum Schluss bleiben; manchmal steht er nach seiner Spätschicht stundenlang vor der Tür und wartet auf sie.
Innerhalb der folgenden Jahre gilt es, einige Rückschläge zu verarbeiten: Arnold muss als Folge einer kurzen Rezession wieder seine Firma verlassen, da er sich noch im Zeitvertrag befunden hatte, doch schon ein halbes Jahr später erfolgt nach einem Intermezzo in einem kleineren Betrieb derselben Branche die Rückkehr und schließlich die Festanstellung beim alten Arbeitgeber.
Angelika hingegen wird nach Beendigung der Arbeit im Kindergarten beruflich nicht mehr richtig auf die Beine kommen: Während sie gerade eine diesmal durchaus vielversprechende, staatlich geförderte Schulungsmaßnahme absolviert, erleidet sie als Fußgängerin einen schweren Verkehrsunfall - sie läuft in ein Auto -, von dem sie als Andenken bis heute ein stabilisierendes Metallelement im Unterschenkel zurückbehalten hat. Zudem muss der Schaden des Unfallgegners, der in die Tausende geht, bezahlt werden, da sie auch noch den größten Teil der Schuld trägt und natürlich - aus ihrer Sicht jedenfalls - keine Haftpflichtversicherung hat; schon vor gut zwei Jahren hatte es wegen diesem Thema einen fulminanten Streit zwischen ihnen gegeben, der sich wie zumeist in absurden weltanschaulichen Unvereinbarkeiten festfuhr: Selbst bei zweistelligen Jahresbeiträgen glaubt sie, jemand wolle sie über den Tisch ziehen - das Misstrauen gegen das ihr suspekte Gesellschaftssystem scheint immer noch grenzenlos zu sein.
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