Insgesamt verlaufen die nächsten Jahre über das Millennium hinaus zum größten Teil harmonisch, was überwiegend Angelikas Bemühungen zu verdanken ist, die es schafft, Arnold stets auf eine spezielle Art mit all dem zu beliefern und bei Laune zu halten, was gerade sein diffuses Selbstwertgefühl so sehr benötigt zu dieser Zeit. So versteht sie es, ihn unter anderem mit Szenarios zu versorgen, die man sonst allenfalls aus amerikanischen Screwball-Komödien kennt, indem sie von ihrem Temperament her beispielsweise durchaus fähig ist, Frauen, auf die sie in Gesellschaft treffen und die sie in Bezug auf ihn für gefährlich hält, vor allen Leuten durchaus alles Andere als augenzwinkernd gemeinte filmreife Eifersuchtsszenen – da fehlen oft nur noch die fliegenden Torten zum Klischee - zu zelebrieren, die ihn nach der ersten Aufregung oftmals demütig zurücklassen. Oder sie treibt etwa Heerscharen von angeblich besten Freundinnen aus ihrem Bekanntenkreis auf, mit denen man dann in der Landeshauptstadt eine Edeldisco besucht - er als einziger Mann in dieser Runde, weithin sichtbar in der Rolle des Westentaschen-Casanovas –, ein Szenario, das Angelika offenbar noch mehr genießt als er selbst. Überdies kann sie es nach wie vor nicht lassen, ihn mit zwar gebrauchten, aber ehemals wohl teuren und in erster Hand aus gut situierten Kreisen kommend wirkenden Anzügen und Mänteln zu versorgen. Dies geschieht alles, ohne dass er Viel dazu tun müsste.
Zumeist sehen sie sich zu dieser Zeit nur am Wochenende, nicht zuletzt auch deswegen, weil Angelika nach mehreren Wohnungswechseln auch diesmal mit der neuen offenbar keine gute Wahl getroffen hat, jedenfalls scheint man beim Bau dieses Hochhauskomplexes, in den sie einzieht, am Zement in den Decken gespart zu haben: Jeder Schritt von der darüberlegenden Wohnung ist zu hören, und zu allem Elend scheint direkt über ihr offensichtlich auch noch jemand zu wohnen, der seine Erholungsspaziergänge in die eigenen vier Wände verlegt zu haben scheint; später wird sich herausstellen, dass es sich um einen Mann auf Droge handelte, der wohl versucht hatte, auf diese Weise seine Entzüge abzuarbeiten.
Zudem hat man die Modeerscheinung „offene Küche“ in den sechziger Jahren, als dieser Wohnkomplex entstand, wohl auch schon gekannt, scheinbar aber noch anders, irgendwie mehr Leidensfähigkeit voraussetzend, interpretiert als heute: Die Küche ist so positioniert, dass man nahezu direkt nach dem Eintreten in die Wohnung mittendrin steht, und der Kochdunst sich seinen Weg in die andere Richtung über das gesamte Wohnzimmer hinweg bis zur Balkontür bahnen muss. Die alten Holzfenster sind undicht, und die Heizkörper machen Geräusche, was sich des Nachts als nervige Angelegenheit bemerkbar macht. Abhilfe wird erst nach etlichen Anrufen und Bittgängen bei der Besitzerin des Appartements, einer älteren Frau mit kühlem Blick hinter einer goldgeränderten Brille gewährt. Jedenfalls fühlt er sich von Anbeginn an nicht wohl hier.
Eine bemerkenswerte Begebenheit gibt es aber auch dort dann doch noch vor dem erneuten Umzug zu verzeichnen: Eines Abends - er ist gerade dabei einen Wohnzimmertisch zusammenzuschrauben - klingelt es an der Wohnungstür; Angelika öffnet, und da steht - der Oberbürgermeister mitsamt seiner Entourage; er ist auf Wahlkampftour und sucht das Gespräch mit den Bewohnern seiner Stadt. Angelika findet sofort einen Draht zu ihm, entkorkt eine Flasche Wein und unterhält sich mit ihm über die aktuelle Entwicklung im Osten; doch der Mann hat natürlich nicht viel Zeit. Auch Arnold kennt ihn relativ gut, hat ihn vor Jahren zum ersten Mal bei einer Podiumsdiskussion im großen Mathematikhörsaal der Universität erlebt zusammen mit seinem Vorgänger in diesem Amt. Der Oberbürgermeister, als ausgewiesen kompetenter, profilierter Ökonom geltend, war schon vorher Wirtschaftsminister im Land gewesen, noch früher auch schon Bundestagsabgeordneter. Er wird auch diesmal wiedergewählt werden, doch nicht mehr viel Freude an seiner Amtsperiode haben. Schon nach relativ kurzer Zeit wird er nach inzwischen gängiger Manier abserviert werden. Bei der Landschaftspflege etwas zu naiv agierend hatte er wohl die umstehenden Gartenzwerge vernachlässigt.
Am Samstagabend begeben sie sich zumeist zur Tochter, wo man gemeinsam isst, sich etwas vom Fernsehprogramm ansieht und dabei die Woche Revue passieren lässt. Angelikas Beziehung zu ihrer Tochter ist selten spannungsfrei, ein ernsthaftes Gespräch zwischen beiden ist nur in einem sehr begrenzten Themenfenster möglich, insbesondere hat er den Eindruck, dass selbst ein Austausch über spezifische Frauenthemen zwischen ihnen schwierig zu sein scheint.
Dass sie hier bei irgendetwas stören, den Eindruck haben Angelika und Arnold zu jener Zeit nicht, da sie davon ausgehen, dass die Tochter keinen Freund hat. Die Nacht zum Sonntag verbringen sie dann meistens in Arnolds Wohnung – freilich in getrennten Betten. Das ist für ihn in Bezug auf ihr Zusammensein die Idealkonstellation, entbindet sie ihn doch davon, den Abend oder vielmehr die Nacht in irgendwelchen sentimental strukturierten Umklammerungen ausklingen lassen zu müssen. Des nachts braucht er, wenn er schon nicht allein ist, zumindest gefühlte Openend-Szenarios. Deswegen übernachtet er auch so gut wie nie bei Angelika. Der Sex ist nach wie vor leidlich, aber hier sollte nicht der Weg das Ziel sein, sondern das Ziel, denkt er. Außerdem ist Angelika nicht der Typ, der in dieser Hinsicht jemals gewertet hätte, im Gegenteil, sie akzeptiert ihn auch klaglos in Bezug auf seine dürftigen sexuellen Anmutungen, die sich fast ausnahmslos aus trüben Quellen speisen; beispielsweise in seinem unterschwelligen Streben nach lächerlichen Machoallüren, wenn er sich etwa, am frühen Sonntagnachmittag Formel eins schauend, auf dem Bett herumfläzt, und sie sich, in Griffweite vor ihm liegend, an seinem Schwanz zu schaffen macht, immer aufs Sorgfältigste bedacht, die Werbepausen nicht allzu sehr zu überziehen, damit er in seiner Einfalt nicht gestört wird.
Am Sonntagnachmittag schließt sich dann, vorausgesetzt, er arbeitet nicht, zumeist ein Besuch an bei irgendwelchen von Angelikas zahlreichen Bekannten, die sie Freundinnen, im vertrauten Kreis manchmal auch gerne noch Genossinnen nennt; abends dann noch ein Spaziergang, oftmals in dem Park nahe dem Hotel, wo die Tochter gerade ihre Lehre absolviert. Gelegentlich fährt er mit der Tochter sonntags auch auf den naheliegenden ADAC-Übungsplatz.
Dieses ganze Szenario erfüllt sowohl Angelika als auch ihn dann doch mit einem gewissen Stolz auf das bisher gemeinsam Vollbrachte, vermittelt ein Gefühl von Familie, von Kontinuität. Überhaupt hat Arnold in dieser Phase zum ersten Mal seit Jahren wieder das Gefühl, dass sein Leben in halbwegs normalen, geordneten Bahnen abläuft, dass er nicht ständig alles hinterfragen oder in Zweifel ziehen müsste, wie das früher vor allem an der Universität dauernd der Fall war. Es ist eine gute Zeit.
Nach Beendigung ihrer Lehre wird Angelikas Tochter allerdings nicht mehr in diesem Hotel arbeiten; scheinbar hat ihr die Arbeitsatmosphäre während der Lehrzeit in diesem doch auch für sie noch fremden Umfeld mehr zugesetzt, als zu erwarten war. Sie hat auch während dieser Zeit stets nebenher noch in anderen Hotels gejobbt, und diese Nebentätigkeiten werden dann irgendwann wieder zur Hauptsache. Aus heutiger Sicht hätte er wohl damals mehr Druck auf sie ausüben sollen, den durch die Lehre eingeschlagenen Weg konsequent fortzuführen, doch er wollte dem Dauerkonflikt, welchem sie in diesem Punkt in Gestalt ihrer Mutter sowieso schon ausgesetzt war, nicht noch zusätzlichen Zündstoff liefern. Später wird sie ihm das, unterschwellig zwar, gelegentlich vorwerfen. Schon das Aufnehmen der Lehre musste er gegen Angelikas Willen durchsetzen. Zudem ist jetzt, seit wieder ein neuer Freund im Spiel ist, sein Einfluss ohnehin äußerst begrenzt. Er quält nicht gerne Menschen, die ihm wirklich nahezustehen glauben - vielleicht ein prinzipieller Fehler. Dass sie besser noch weiter an ihrer beruflichen Karriere gearbeitet hätte, wird sie erst viel später merken, dann aber auch umso eindringlicher.
Читать дальше