1 ...6 7 8 10 11 12 ...15 „Sieht man mir das so sehr an?“
„Wenn man dich kennt, dann schon. Also, was ist los?“
„Eben dieser Job macht mich nicht glücklich. Ich dachte immer, wenn ich hart für etwas arbeiten würde, dann würde sich das am Ende auszahlen. Es zahlt sich ja auch wortwörtlich aus, aber jeden Tag habe ich Angst, dass mein Chef mich zur Schnecke macht. Ich hatte sogar Angst, Urlaub zu nehmen, weil ich wusste, dass er Urlaub nur gewährt, weil es seine Pflicht ist.“
„Warum hast du dann den Job überhaupt angenommen?“
„Weil ich allen beweisen wollte, dass ich es schaffe, diesen Job zu bekommen. Ich wusste, wie viele Menschen so einen Job wollen und es hat euch doch alle so stolz gemacht. Und außerdem wollte ich Alex in nichts nachstehen.“
„Ach, darum ging es also. Ach Frieda, wenn du etwas tust, was du nicht willst, nur um andere glücklich zu machen, dann lass es lieber gleich sein. Du bist eine sehr intelligente junge Frau, nur habe ich dir öfters schon mal gesagt, dass du mal auf dich achten musst. Ich weiß, dass ist leichter gesagt als getan, denn ich war genauso, als ich jung war. Ich glaube, wir waren fast alle so, weil wir uns mehr vom Leben erhoffen, wenn wir härter arbeiten, aber ich glaube beziehungsweise ich weiß jetzt, dass das nicht alles ist, was zählt. Du bist noch jung, also mach das, was dich glücklich macht.“
Ich hatte das Gefühl, so ein ehrliches und intimes Gespräch hatten wir noch nie geführt. Ich merkte, wie mir eine Träne die Wange runterkullerte. Nicht aus Trauer, sondern aus Wut auf mich selbst und weil mich die Worte meiner Mutter getroffen hatten. Ja, ich würde etwas in meinem Leben verändern. Aber wo sollte ich anfangen? Es schien, als hätte meine Mutter meine Gedanken gelesen. „Kündige deinen Job“, sagte sie.
„Was?“
„Kündige deinen Job“, wiederholte meine Mutter ruhig. „Du hast eben gesagt, dass er dich nicht glücklich macht, also fang sofort an, etwas zu verändern.“
„Aber ich brauche diesen Job. Er bezahlt unsere Wohnung in München.“ „Genau darum geht es. Er dient zum Zweck, was ja einerseits auch gut ist, aber er sollte dir doch auch Spaß machen“
„Er macht mir Spaß…“, wollte ich protestieren.
„Aber anscheinend nicht unter den Bedingungen. Du hast ja noch ein paar Tage Zeit, aber wenn dein Chef noch nicht einmal Verständnis dafür hat, dass du ein paar Tage wegmusst, weil deine Tante gestorben ist, dann ist das meiner Meinung nach ein Grund, den Job zu wechseln. Und glaub mir, mit deiner Intelligenz und Erfahrung bekommst du überall etwas.“ Sie lächelte. Insgeheim wusste ich, dass sie recht hatte, aber ich wusste auch, wie schwer es war, sich von alten Mustern zu trennen. Sie waren wie warme Wollpullover, die einen an kalten Winterabenden wärmten. Manchmal kratzten sie, aber insgeheim liebte man sie doch. Wie oft hatte ich schon versucht, mich von meinen Lastern zu lösen. Das betraf nie das Rauchen oder den Alkohol (beides hatte ich nie oder nur in Maßen angerührt), aber ich hatte schon immer Schwierigkeiten damit, mich zu entspannen und mal etwas Arbeit liegenzulassen.
„Wir sollten langsam zurückgehen, damit wir rechtzeitig kommen“, meinte ich. Meine Mutter nickte. „Nur keine Eile“, sagte sie und lächelte. „Wir machen Urlaub.“
Ja, Urlaub. Das konnte man wohl sagen.
So fuhren wir um zwanzig nach zwölf Richtung Flensburg. Für mich war das fast schon zu spät – was wäre, wenn wir in einen Stau gerieten? - ,aber meine Mutter hatte die Ruhe weg und natürlich kamen wir überpünktlich an. Ich stellte mir Herrn Stattmann untersetzt und etwa Mitte fünfzig vor und war deswegen umso überraschter, als er sich als groß, schlank und gutaussehend und Mitte dreißig herausstellte. Er begrüßte uns in seiner Kanzlei und ich konnte nicht umhin, meine Augen von ihm zu lassen. Auch meine Mutter schien das zu bemerken und ich sah aus dem Augenwinkel, wie sie mir zuzwinkerte.
„Meine Damen, ich spreche Ihnen mein herzliches Beileid für den Verlust von Annabelle Meyer aus. Sie war lange Zeit meine Mandantin und es ist mir eine Ehre, ihren letzten Willen vertreten zu können“, sagte Herr Stattmann mit einer beruhigenden Stimme.
„Danke, das ist sehr freundlich von ihnen“, sagte meine Mutter. Herr Stattmann fuhr fort: „Wie mir meine Klientin anvertraut hat, müssen Sie sich bezüglich ihrer Bestattung um nichts mehr kümmern. Sie müssten nur mit dem zuständigen Bestatter persönlich reden, wann die Zeremonie abgehalten werden soll. Meine Mandantin wünschte eine Seebestattung, für die sie bereits alles organisiert hat.“ Ich hörte ein leichtes Aufatmen meiner Mutter. Das war ja ihre größte Sorge gewesen, sich um alles kümmern zu müssen. Trotzdem sah ich immer noch eine Sorgenfalte auf ihrer Stirn.
„Das ist ja alles sehr schön“, sagte sie. „Aber woher wusste meine Schwester das denn alles? Sie war doch jünger als ich.“ Herr Stattmann schaute etwas überrascht.
„Hat sie Ihnen das denn nicht gesagt? Ihre Schwester Annabelle Meyer hatte Krebs.“ Nun musste meine Mutter einen Aufschrei unterdrücken. Diese Information überraschte auch mich und ich senkte den Blick. Auch Herr Stattmann schaute nun betreten drein. Offenbar hatte meine Tante ihn nicht über unsere zerrütteten Familienverhältnisse informiert. „Außerdem hat Frau Meyer auch ein Testament hinterlassen, in dem sowohl Sie beide als auch ein Herr Thomas Meyer – ich nehme an, ein weiterer Verwandter – bedacht sind.“
„Ja, das ist mein Bruder“, sagte meine Mutter. „Ich werde umgehend den Bestatter anrufen und fragen, wann es möglich ist, die Beisetzung abzuhalten. Wann können wir die Testamentseröffnung abhalten?“
„Ich würde vorschlagen, sobald ihre Schwester bestattet ist“, sagte Herr Stattmann. Meine Mutter nickte.
„Gut.“
„Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?“, fragte er sanft.
„Ich denke nicht, wir melden uns“, sagte meine Mutter und war im Begriff, aufzustehen.
„In Ordnung. Ich möchte Ihnen noch einmal mein herzliches Beileid für Ihren Verlust übermitteln“, sagte Herr Stattmann, „Sie sollten wissen, dass Ihre Schwester es nicht verdient hat, so jung zu sterben, wenn es überhaupt jemand verdient hat.“
„Danke“, sagte ich nun. „Wir wissen das sehr zu schätzen. Nicht wahr, Mama?“ Jetzt war es an meiner Mutter, die nur nicken konnte.
„Auf Wiedersehen“, sagte der Notar, als er uns zur Tür begleitet hatte, und schüttelte unsere Hände. Dabei konnte ich nicht widerstehen und musste noch einmal in seine tiefblauen Augen schauen. Und ich hatte das Gefühl er schaute zurück und lächelte dabei. Dann verließen wir die Kanzlei.
Draußen auf der Straße sagten wir erst einmal eine Weile lang nichts. Nach einem gefühlt endlosen Schweigen sagte meine Mutter dann: „Der sah ja echt gut aus.“ Und ich sah ihr leichtes Grinsen im Gesicht.
„Ja, schon, aber ist der nicht ein wenig jung für dich?“
„Nicht für mich – für dich“, sagte sie als wäre ich schwer von Begriff.
„Für mich?“, aber ich habe doch Alex.
„Ich habe doch gesehen, wie du ihn angesehen hast. Liebes, ich werde zwar langsam alt, aber meine Sinne funktionieren noch ganz gut.“
„Ja, er sieht nicht schlecht aus und ich war ehrlich gesagt ein klein wenig überrascht, wie jung er noch ist. Vielleicht war er ja der Liebhaber von Tante Annabelle?!“ Ich kicherte bei der Vorstellung. „Nein, ich traue meiner Schwester ja viel zu, aber das nicht.“
„Was heißt, du traust ihr viel zu?“, fragte ich neugierig. „Ach, das sagt man doch so“, antwortete sie, aber ich glaubte ihr nicht ganz. „Hast du Lust auf einen Kaffee?“
„Ja, gerne.“ Wir schlenderten ein wenig durch die Straßen Flensburgs, schauten ein wenig in die Schaufenster, die schon voll mit Weihnachtsschmuck dekoriert waren und suchten und ein kleines gemütliches Kaffee. Als wir uns gesetzt und unsere Bestellung aufgegeben hatten, sagte meine Mutter wieder: „Ich kann verstehen, warum Annabelle an die See gezogen ist. Sie war immer schon ein Wassermensch gewesen. Sie hasste das Wandern in den Bergen.“
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