Ach, wie schön war doch so eine Dusche: da konnte man für einen Moment mal kurz seinen Gedanken freien Lauf lassen. Nur leider kommt man da so manchmal ins Zweifeln, ob das alles so richtig war, für was man sich entschieden hat. Ich stellte das Wasser ab und stellte fest, dass es immer noch recht früh war und ich in meiner Tagesplanung immer noch nicht weiter vorangekommen war. Ich wickelte mir mein Duschhandtuch um und machte mir einen Haarturban und ging ins Schlafzimmer und ließ mich dort erst einmal aufs Bett fallen. Ich schloss die Augen und versuchte, mich wie eine dieser Frauen in der Werbung für Duschgel oder Rasierschaum oder ähnliches zu fühlen. Durch das Klingeln des Telefons wurde ich wieder aus meinen Gedanken gerissen. Ich ließ es einfach klingeln, denn ich wollte diese Entspannung nach der Dusche genießen und mich für einen Moment nicht aus der Ruhe bringen lassen. Alles andere konnte warten. Nachdem ich eine gefühlte Ewigkeit so dagelegen hatte (es waren bestimmt nur fünf Minuten gewesen), ging ich zum Schrank und schaute, was für den Tag angemessen war. Ich hatte eine Tendenz, mir einfach ein Shirt und eine Jogginghose rauszugreifen, aber die Businessfrau in mir sträubte sich dagegen. Was ist, wenn doch noch irgendein Auftrag reinkam und ich schnell losmusste. Im selben Moment schalte ich mich für diesen Gedanken, denn es war Sonntag. Alle Kanzleien hatten zu und die Klienten konnten ja wohl mal zwei Tage abwarten, auch wenn sie sich oft über die horrenden Summen beschwerten im Gegenzug zu der Arbeit, die wir leisteten. Hatten die eine Ahnung...
Trotzdem griff ich nach einer Jeans und einem T-Shirt, das meine Figur betonte. Dann ging ich zurück in die Küche, wo das Telefon seit gestern Abend lag und schaute, wer mich angerufen hatte. Es war meine Mutter gewesen. Vielleicht gab es ja doch neue Erkenntnisse. Also drückte ich auf die Rückruftaste und hörte auf das Freizeichen. Beim dritten Klingeln hörte ich die so vertraute Stimme: „Margarete Meyer am Apparat.“
„Hallo, Mama. Ich bin's.“
„Ja, hallo, mein Kind. Wie geht es dir?“ Ich wusste nicht so recht, was ich von dieser Frage halten sollte und gerade wollte ich mit „Gut“ antworten, merkte aber noch im gleichen Atemzug, dass das die antrainierte Standardantwort war und das ja gerade nicht wirklich der Realität entsprach. „Na ja, geht so“, meinte ich mit etwas belegter Stimme. „Ich kann's immer noch nicht so richtig realisieren. Gibt's irgendwas Neues?“
„Ja, ich kann‘s verstehen“, ich konnte die Traurigkeit in der Stimme meiner Mutter fast durch das Telefon hören. „Ich habe auch kaum geschlafen. Wir hatten überlegt, uns heute Nachmittag zu treffen und ein wenig zu reden? Willst du auch kommen?“
„Ja, gerne.“
„Gut, sagen wir 15:30?“
„Ja, das passt. Kann ich sonst noch irgendetwas tun?“ „Nein, ich denke nicht. Leider.“
„Okay, dann bis nachher.“ „Bis nachher.“ Ich wartete noch kurz, bis es in der Leitung klickte, damit ich sicher war, dass meine Mutter zuerst aufgelegt hatte. Somit hatte ich zumindest eine Nachmittagsbeschäftigung. Wenn Alex mal am Sonntag frei hatte, machten wir gerne etwas zusammen, gingen wandern oder so etwas, aber das kam eher selten vor. Meistens wollte er dann auch lieber zu Hause bleiben und mal die Füße hochlegen und sich das Essen liefern lassen und einfach mal abschalten. Manchmal traf ich mich auch mit meinen Freundinnen, aber das war in letzter Zeit auch immer schwieriger, denn Sophia war vor zwei Jahren Mutter geworden und deswegen waren die Sonntage bei den Herrdorfs meistens Familiensonntage und auch Lea war immer irgendwie eingespannt, engagierte sich noch zusätzlich sozial und war fast immer auf dem Sprung. Nun gut, aber nun konnte ich mich ja auf den Nachmittag mit meiner Familie freuen.
Um Punkt fünfzehn Uhr dreißig parkte ich meinen kleinen Fiat 500 auf dem Grundstück meiner Eltern, das sich etwas außerhalb der Stadt befand. Hier war es ziemlich ruhig, aber auch manchmal etwas einsam, wie ich fand. Trotzdem kam ich gerne hierher, denn es erinnerte mich an meine Kindheit. Das Grundstück war groß und bot viel Platz zum Spielen. Früher war es mal ein altes Bauernhaus, aber Tiere gab es schon nicht mehr, als ich geboren wurde. Die Scheunen boten tolle Gelegenheiten zum Verstecken spielen. Lilly, die blonde Labradorhündin, begrüßte mich schwanzwedelnd und ich streichelte ihr über den Rücken, während sie zwischen meinen Beinen hin- und hersprang. „Na? Wer hat dich denn rausgelassen?“, sprach ich mit dem Hund. Ich ging zur Tür und klingelte. Meine Mutter machte sie auf und sagte sogleich zum Hund: „Lilly, wo warst du denn schon wieder? Hast du wieder gebuddelt, oder was?“ und zu mir: „Schön, dass du da bist Frieda. Komm, der Thomas ist auch da.“
Thomas war mein Onkel und dementsprechend der Bruder meiner Mutter. Ich folgte ihr ins Wohnzimmer, wo der kleine Kaffeetisch schon gedeckt war.
„Thomas!“, rief meine Mutter. „Frieda ist da!“ Ich hörte leicht schlurfende Schritte und schon sah ich die große und leicht vornübergebeugte Statur meines Onkels in der Tür stehen. „Dass man dich auch noch mal zu sehen bekommt“, meinte ich mit einem Lächeln und umarmte ihn. „Wie geht es dir?“
„Den Umständen entsprechend gut“, meinte er, aber auch er konnte die Trauer in seiner Stimme nicht verbergen.
„Setzt euch doch“, mischte sich nun meine Mutter wieder ein. „Wollt ihr Kuchen? Ich habe extra welchen gebacken.“
„Gleich, Mama. Jetzt lass mich doch erst einmal ankommen. Setz du dich doch auch erst einmal hin.“ Meine Mutter konnte fast noch schlechter stillsitzen als ich. Zumindest schien das in der Familie zu liegen. Ich setzte mich hin und bediente mich mit der Kaffeekanne.
„Möchtest du auch welchen?“, fragte ich an Thomas gewandt.
„Gerne.“
„Mama?“
„Ich nehme mir gleich welchen!“, rief sie aus der Küche, wo sie wieder hin verschwunden war. „Und wie geht’s der Familie?“, fragte ich nun an meinen Onkel gewandt. „Was machen Sabine und die Kinder?“
„Sabine geht’s gut. Anna ist bald fertig mit ihrem Medizinstudium und Lukas arbeitet mittlerweile als Bauingenieur.“ Mein Onkel wohnte mit seiner Familie etwa noch einmal eineinhalb Stunden von meiner Mutter entfernt und so sahen wir uns recht selten. Eben nur zu solchen Anlässen wie Weihnachten oder traurigen, die die Familie betrafen. Mit meiner Cousine Anna hatte ich öfter mal Kontakt, aber immer weniger, denn sie musste viel für ihre bald anstehende Prüfung lernen und mit Lukas hatte ich noch weniger Kontakt. Irgendwie war das schade, denn schließlich waren wir doch eine Familie. Nun hatte sich auch wieder meine Mutter zu uns gesellt und griff nach der Kaffeekanne. Es herrschte eine halbe Minute ein bedächtiges Schweigen, bevor ich mich dazu entschied, das Wort zu ergreifen, weil ich diese Art von Stille absolut nicht mochte: „Wie soll es jetzt weitergehen?“
„Mmh“, machte meine Mutter. „Ich werde morgen den Bestatter anrufen und versuchen, alles Mögliche zu regeln. Ich habe keine Ahnung, ob Annabelle ein Testament hinterlassen hat. Hätten wir doch nur mal ein bisschen mehr geredet, aber wer hätte denn ahnen können, dass das Leben so schnell vorbei ist?“ Und schon wieder wurde meine Mutter melancholisch, was leider bei solchen Themen häufiger vorkam.
„Na ja“, meinte ich. „Jetzt kann man es leider nicht mehr ändern.“ Gleichzeitig hätte ich mich für diese unsensible Aussage ohrfeigen können. Das machte es bestimmt nicht besser. „Wenn du willst, kann ich mich auch um alles kümmern“, schlug ich vor. Ich hatte zwar nicht wirklich Zeit dafür, denn in meinem Kopf ging ich schon wieder die ganzen Termine für die nächste Woche durch, aber ich wollte meiner Mutter das Gefühl geben, dass sie das nicht allein machen musste. „Das ist lieb, mein Schatz, aber du hast doch bestimmt viel zu tun. Ich schaffe das schon.“ Meine Mutter versuchte ein Lächeln aufzusetzen.
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