Trotzdem blieb ich ruhig. Denn ich fühlte in mir die Gewissheit, dass ich irgendwann auf jenes Bruchstück meiner Vergangenheit stoßen würde, mit dem ich den Beweis führen könnte, unrechtmäßig aus dem Weltengeschehen herausgelöst worden zu sein.
Und tatsächlich: Auf einmal umwölkt mich die staubige Luft eines hohen, fensterlosen Saales, mein Blick fällt auf rote, von unzähligen Hintern eingedrückte Plüschpolster, sie gehören zu Klappstühlen, die im Halbrund hintereinander aufgereiht sind, in den Seitengängen geistert das Notlicht um die Schemen der prachtvollen Wandleuchter, die nun, während der Vorstellung, ausgeschaltet sind. Ich selbst stehe auf der Bühne, das Gesicht gerötet vom Adrenalin des Exhibitionismus und von den Scheinwerfern, die den Zuschauerraum hinter einer Wand aus Lichtreflexen verschwimmen lassen.
Der Vorhang fällt, es ist Pause, ich sitze in meiner Garderobe, ein paar Scherze mit den Kollegen, wir lästern über das Publikum, das an dem Abend etwas steif zu sein scheint. Schon ertönt die zweite Glocke, gleich wird es weitergehen. Noch ein Blick in den Spiegel, ein letztes Herumzupfen am Toupet, ein kräftiger Schluck von meinem Lieblingswasser, das ich immer griffbereit habe, es schmeckt irgendwie anders, bitterer als sonst, dann gebe ich mir einen Ruck, ich möchte zurückgehen zum Bühnenaufgang, aber ich kann mich nicht erheben, es ist, als würde mich ein unsichtbarer Riese gegen die Stuhllehne drücken. Mir wird schwarz vor Augen, ich möchte schreien, aber es dringt nur ein schwaches Röcheln aus meiner Kehle …
Und dann, von einer Sekunde zur anderen, werde ich für mich selbst zu einem Fremden. Ich sehe meinem eigenen Sterben zu, als würden die Bilder einer Überwachungskamera an mir vorbeiziehen: Ich liege am Boden, irgendjemand stößt einen Schrei aus, andere Personen eilen herbei, ich kenne sie, aber ich kann sie nicht erkennen, geschweige denn ansprechen, ich befinde mich in einer Weltraumkapsel, mit rasender Geschwindigkeit entfernt sie sich von dem auf dem Boden liegenden Körper. Ein Arzt beugt sich über das Menschenbündel mit den verrenkten Gliedmaßen, er fühlt ihm den Puls, er drückt mit beiden Händen rhythmisch gegen das Herz, bis der Brustkorb bricht – aber ich spüre nichts, auch nicht, als man den toten Körper auf eine Liege bettet und abtransportiert.
"Schwerer Herzinfarkt", höre ich jemanden murmeln, obwohl ich doch ganz genau weiß: Ich bin vergiftet worden! Es war Mord, ein heimtückischer, perfider Anschlag auf meine Existenz, man hat mir mein halbes Leben gestohlen, meine Zeit war noch nicht gekommen. Ich möchte protestieren, aber mein Kiefer ist erstarrt, ich bringe keinen Ton heraus, und ich kann mich noch nicht einmal darüber aufregen, weil das, was da abtransportiert wird, nichts mehr fühlen kann. Heimatlos schwebe ich über mir selbst, ein verschwimmender Blick über einem verfallenden Leib.
Ebenso plötzlich, wie es sich auf mich herabgesenkt hatte, lichtete sich das Dunkel wieder. Blinzelnd erkannte ich: Ich befand mich wieder in dem Raum aus Glas, ringsum umgeben von unbeflecktem Himmel. Mir gegenüber blätterte der Sachbearbeiter mit dem durchscheinenden Teint in seinen Unterlagen, als hätte ich diesen Ort nie verlassen.
"Tja", murmelte er bedächtig, "wie es scheint, ist Ihrem Antrag tatsächlich stattgegeben worden."
"Dann wird mir also mein Leben zurückgegeben?" fragte ich freudig erregt. Ich konnte mich zwar nicht daran erinnern, das Formular ausgefüllt zu haben – aber das war mir in dem Moment auch herzlich egal.
Ein verwunderter Blick traf mich: "Nein, das natürlich nicht …"
"Wie bitte?" rief ich aus. "Was sagen Sie da?" Es war, als hätte man mich ein zweites Mal zum Tode verurteilt.
Die Gestalt in der anderen Ecke verschwamm nun fast vollständig mit dem Licht, das durch die hohen Glasscheiben ins Innere flutete. So hatte ich den Eindruck, als würde mich aus der Tiefe des Alls eine körperlose Stimme anraunen. "Der Tod ist prinzipiell unwiderruflich", hallte es durch den Raum.
Unmittelbar darauf wurde der Ton deutlich jovialer, während mein Sachbearbeiter gleichzeitig wieder klarere Konturen annahm. "Schauen Sie", erläuterte er mir, "das ist wie beim Fußball. Der Tod ist gewissermaßen eine Art Tatsachenentscheidung des Schiedsrichters. Wenn man sie zurücknimmt, stört man damit nicht nur den Spielfluss, sondern läuft Gefahr, auch die Dynamik des Spielgeschehens zu verfälschen."
"Und was sollte dann dieses ganze Brimborium?" echauffierte ich mich. "Die Kammer der Erinnerung? Dieses dämliche Antragsformular? Warum musste ich mich auf all das überhaupt einlassen, wenn …"
"Weil wir", unterbrach mich mein Gegenüber, "theoretisch nicht ausschließen können, dass es sich irgendwann auch einmal umgekehrt verhält – dass also der Tod eines Einzelnen die Dynamik des Weltgeschehens verfälscht oder gar außer Kraft setzt."
Ich stutzte. Zwar hatte ich nie den Eindruck gehabt, eine vollends bedeutungslose Existenz zu führen oder ohne jeden Einfluss auf meine Umwelt zu sein. Aber eine Änderung der Dynamik des Weltgeschehens, nur weil ich nicht mehr da war? Das schien mir dann doch etwas zu hoch gegriffen zu sein.
"Ich weiß – so etwas erscheint kaum denkbar", räumte der Sachbearbeiter ein, als könnte er meine Gedanken lesen. "Es handelt sich dabei auch um eine rein hypothetische Annahme, um etwas, das uns in der Praxis noch nie begegnet ist. Aber wir müssen nun einmal stets die potenzielle Realität des Außergewöhnlichen in Betracht ziehen. Schließlich wären wir ohne sie ja gar nicht da."
"Und was bringt mir die Bewilligung meines Antrags dann?" hakte ich nach.
Die Antwort klang wie ein Auszug aus einem Gesetzesblatt: "Sie erhalten dadurch das Recht, für einen Zeitraum von maximal vier Wochen in die Welt zurückzukehren. Während dieser Zeit können Sie die Umstände Ihres Todes überprüfen und seine Auswirkungen untersuchen. Damit schaffen Sie selbst die Grundlage, auf der dann später die Entscheidung über eine etwaige Revision Ihres Todesurteils getroffen werden kann."
Der Apostelbürokrat legte eine kurze Pause ein. Dann setzte er mit mahnendem Unterton hinzu: "Ich muss Sie allerdings darauf hinweisen, dass Ihre neue Existenz nichts mit Ihrer früheren gemein haben wird. Auch wenn Sie sich selbst zunächst fühlen werden, als würden Sie in Ihr altes Leben zurückkehren, werden Sie doch ein völlig anderes Wesen sein. Insbesondere Ihre Gefühle und Instinkte werden in vielem das Gegenteil dessen sein, was Sie von früher her kennen. Das liegt daran, dass Ihre neue Existenz Ihnen nicht aus der Fülle des Seins zuströmt, sondern Ihnen aus dessen absolutem Gegenpol, der völligen Negation des Seins, erwächst. Aus dem Nichts geboren, werden viele ihrer Instinkte auf die Vernichtung des Seins abzielen. Geben Sie ihnen jedoch nach, so wird es Ihnen ergehen wie den Bienen, die mit ihrem Stich zwar ihr Opfer verletzen, dadurch aber zugleich ihr eigenes Existenzrecht verwirken."
Ein letzter feierlicher Blick traf mich: "Wenn Sie Ihren Antrag unter diesen Umständen lieber zurückziehen möchten, so steht Ihnen dies natürlich frei. Noch ist es nicht zu spät dafür."
Meinen Antrag zurückziehen? Jetzt noch? Nachdem ich all die Selbstkasteiungen und Belehrungen über mich hatte ergehen lassen? Ich dachte ja gar nicht daran! Besser eine kurze, fremdartige Existenz als gar keine!
Ich weiß nicht mehr, ob ich diese Entscheidung laut ausgesprochen oder sie nur in Gedanken formuliert hatte. Jedenfalls handelt es sich dabei um das letzte Element in jenem Reigen bizarrer Träume, als der mir später, als ich mich in dem kleinen Park neben meiner alten Wohnung wiederfand, meine seltsame Reise auf die andere Seite des Seins erschien.
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