„Das Problem des demokratischen Kapitalismus besteht darin, dass er Kritik braucht, dass er von ihr lebt. Wenn er nicht der Kritik ausgesetzt ist, zerfällt er.“
(Tomáš Sedláček)
Dani Parthum
Hamburg, April 2015
Anmerkungen:
[1] Pressemitteilungen des Oberlandesgerichts unter http://drnounddieunschuldigen.de
[2] Das Verfahren erhielt das Aktenzeichen 608 KLs 12/11.
Die entscheidenden Gesetze
§ 93 AktG - Sorgfaltspflicht von Vorständen (Business-Judgment-Rule)
(1) Die Vorstandsmitglieder haben bei ihrer Geschäftsführung die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters anzuwenden. Eine Pflichtverletzung liegt nicht vor, wenn das Vorstandsmitglied bei einer unternehmerischen Entscheidung vernünftigerweise annehmen durfte, auf der Grundlage angemessener Information zum Wohle der Gesellschaft zu handeln. [...]
§ 266 StGB - Untreue
(1) Wer die ihm durch Gesetz, behördlichen Auftrag oder Rechtsgeschäft eingeräumte Befugnis, über fremdes Vermögen zu verfügen oder einen anderen zu verpflichten, missbraucht oder die ihm kraft Gesetzes, behördlichen Auftrags, Rechtsgeschäfts oder eines Treueverhältnisses obliegende Pflicht, fremde Vermögensinteressen wahrzunehmen, verletzt und dadurch dem, dessen Vermögensinteressen er zu betreuen hat, Nachteil zufügt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.
§ 263 StGB - Betrug, besondere Schwere der Schuld
(3) In besonders schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren. Ein besonders schwerer Fall liegt in der Regel vor, wenn der Täter [...]
1. [...]
2. einen Vermögensverlust großen Ausmaßes herbeiführt oder in der Absicht handelt, durch die fortgesetzte Begehung von Betrug eine große Zahl von Menschen in die Gefahr des Verlustes von Vermögenswerten zu bringen, [...].
§ 400 AktG - unrichtige Darstellung / Bilanzfälschung
(1) Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer als Mitglied des Vorstands [...]
1. die Verhältnisse der Gesellschaft einschließlich ihrer Beziehungen zu verbundenen Unternehmen in Darstellungen oder Übersichten über den Vermögensstand [...] unrichtig wiedergibt oder verschleiert, [...].
Die 8. Große Strafkammer
Dr. Marc Tully[3], Vorsitzender Richter
gelernter Bankkaufmann, Schnelldenker und -versteher, sich seiner Selbst sicher, redegewandt, beherrscht, ironisch, klare Fragetechnik
Volker Bruns, beisitzender Richter
zurückgenommen, fragte häufig mit vielen Kommas, fasste vielschichtige Gedanken locker aus dem Kopf zusammen, schrieb sich Zettelchen mit Tully
Dr. Malte Wellhausen, beisitzender Richter
eher beobachtend, zurückhaltend, fragte selten, sprach sanft
Laienrichter - eine Schöffin und ein Schöffe
hörten zu, notierten sich kaum etwas, fragten nichts
Die Ankläger
Karsten Wegerich, Staatsanwalt
wortgewaltig, angriffslustig, schlagfertig, stritt sich manches Mal mit Verve mit Verteidigern, überlässt anderen ungern das letzte Wort
Maximilian Fink, Staatsanwalt
ausgleichend, schrieb häufig am Laptop mit, stärkte Wegerich argumentativ den Rücken
Die Urkundsbeamtin
die Justizhauptsekretärin notierte sich fast alles per Hand, was der Vorsitzende Richter Tully ihr diktierte; Tully nannte sie scherzhaft „meinen M-1-Leiter“ in Anlehnung an die Hierarchie der HSH
Anmerkungen:
[3] sprich: [talli]; Dr. Marc Tully wurde im laufenden Untreue-Verfahren zum Vorsitzenden Richter am Hanseatischen Oberlandesgericht Hamburg berufen.
Die Angeklagten und ihre Verteidiger
Hans Berger, 63[4], Vorstandsvorsitzender
Bergers Ruf ist der eines Sparkassendirektors, freundlich und zugewandt
vertreten durch:
Otmar Kury, Hamburg
geistreicher Anwalt, manches Mal temperamentvoll
Peter Rieck, 60, stellvertretender Vorsitzender, Immobilien-/Schiffsvorstand
gilt als clever und bestens vernetzt in Politik und Wirtschaft
vertreten durch:
Prof. Norbert Gatzweiler, Köln
ficht mit Worten, hat gern Recht, angriffslustig
Joachim (Jochen) Friedrich, 49, Kapitalmarktvorstand
hat sich im Bankgeschäft hochgearbeitet, zurückhaltend, angepasst, emotional
vertreten durch:
Wolfgang Prinzenberg, Hamburg
intellektuell, routiniert
Hartmut Strauß, 64, Risikovorstand
gehört zu den Old-School-Bankern, gewissenhaft, kaufmännisch, scheu
vertreten durch:
Reinhard Daum, Hamburg
patent, sachlich, versuchte im Prozess eigene Impulse zu setzen
Prof. Dirk Jens Nonnenmacher, 50, Finanzvorstand
hoch aufgeschossen, selbstüberzeugt, liebt Fachjargon
vertreten durch:
Prof. Heinz Wagner, Ahrensburg
äußerst höflich, rechtschaffend
Bernhard Visker, 47, Vorstand Firmenkunden
fleißiger, sachlicher Fachmann, freundlich, unaufdringlich, ernst
vertreten durch:
Gaby Münchhalffen Köln
robust, sicher mit Formalitäten, wenig in der Öffentlichkeit
Anmerkungen:
[4] Alter zu Prozessbeginn
D E R P R O Z E S S B E G I N N T
Tag 01: Auftakt nach Maß ins juristische Neuland
Mittwoch, 24. Juli 2013
Er war ein heißer Sommertag, dieser 24. Juli. Schon in den Morgenstunden zeigte das Thermometer über 30 Grad. In dieser Hitze begann also das jahrelang vorbereitete Strafverfahren gegen die sechs früheren Vorstände der HSH Nordbank AG - wegen schwerer Untreue beziehungsweise Bilanzfälschung. Ich hielt einige von ihnen für schuldig. Schuldig, die Landesbank der norddeutschen Länder Hamburg und Schleswig-Holstein mit ins Verderben gewirtschaftet zu haben, ohne Zweifel zu kultivieren, ohne innezuhalten und ohne Selbstreflexion - dafür großspurig, selbstgefällig, opportunistisch. Das hatten meine Recherchen für den Radiosender NDR Info ergeben. Jetzt wurde den Bankern der Prozess gemacht. Ob aber auch für das, wofür ich sie für schuldig hielt? Die Anklageschrift knüpfte ihren Vorwurf nur an ein einziges Finanzgeschäft, das die Vorstände Ende 2007 genehmigt und die HSH kurze Zeit später mit an den Rand des Ruins manövriert hatte. Es wurde unter dem Codenamen Omega55 bekannt.
Geduldsprobe
Ich war jedenfalls nervös. Nach Jahren würde ich die Vorstände wiedersehen und ich war dabei, mich auf ungewohntes Terrain zu begeben. Als Wirtschaftsjournalistin berichte ich gewöhnlich nicht aus Gerichtssälen. Weil ich aber durch meine Recherchen soviel über die HSH wusste, wollte ich mit eigenen Ohren hören, was vor Gericht zur Sprache kommt und selbst sehen, wie das ist, mittendrin in einem Strafprozess zu sein. Ich wollte mir eine eigene Meinung bilden und nicht auf sporadische Presseerzeugnisse und magere Gerichtsmitteilungen angewiesen sein. Also berichtete ich vom Prozessauftakt für die Hörfunkwellen der ARD. Für 9 Uhr hatte ich mich mit zwei Kollegen vom NDR vor dem Eingang des Hamburger Landgerichts verabredet, eine Stunde vor Beginn des Spektakels. Ich wollte nichts und niemanden verpassen.
Die Kontrolle an der Sicherheitsschleuse dauerte mir deshalb viel zu lang. Ohne Schleuse aber kein Zutritt zum Gericht. Alle Journalisten, Besucher, Anwälte und auch die Angeklagten mussten sich einzeln scannen lassen wie am Flughafen. Eine umständliche Prozedur. Entsprechender Rückstau. Endlich, gegen halb zehn, stand ich im zweiten Stock vor dem Großen Sitzungssaal 300 - dem Ort des wichtigsten Wirtschaftsprozesses des Jahres.
Große Anspannung
Immer mehr Journalisten fanden sich ein. Die Anspannung stieg minütlich. Ich schätzte, mehr als 40 Kollegen, Kameraleute und Fotografen waren gekommen. Sie fingen zusehends an, sich vor der Tür zum Zuschauerraum zu drängeln. Zwar waren extra Presse-Plätze reserviert worden und jeder hatte sich namentlich anmelden müssen. Aber würden diese Plätze reichen?
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