Sven und ich wechselten einen Blick.
„So,“ sagte ich schließlich. „Es kann losgehen. Nach Norden also? Oder wollen wir in den Süden segeln? Da soll es lichte Wälder geben, in denen Elben singen und wo es das ganze Jahr über Sommer ist.“
Einen Moment lang schauten wir uns alle drei zögernd an.
Endlich gab Sven sich einen Ruck.
„Nach Norden!“ rief er. „Auf nach Dwarfencast!“
Ich stieß das Boot mit der Ruderstange vom Grund frei. Sven und ich griffen in die Riemen und manövrierten die Jolle langsam durch die Bucht.
„Kann ich auch was tun?“ fragte Kat, die uns beim Rudern zusah. „Gebt mir doch auch so ein Paddel.“
„Nein,“ sagte Sven. „Das sieht leichter aus, als es ist. Vorausgesetzt, du hast nicht vor, die ganze Nacht in der Bucht im Kreis herumzurudern. Am besten du bleibst da an der Seite sitzen und passt auf, dass du nicht rausfällst. Wenn wir in den Wind fieren, dann setzt du dich auf die andere Seite herüber, damit das Boot nicht umkippt. Aber erst, wenn wir es sagen.“
Kat guckte unbehaglich auf dem Boot umher.
„Du kannst die Steuerpinne nehmen, während wir pullen,“ meinte ich. „Aber pass auf, dass wir nicht vom Kurs abkommen. Die Fahrrinne aus der Bucht hinaus ist ziemlich schmal. Siehst du den großen roten Stern dort vorn am Himmel? Und rechts davon die Gruppe heller Sterne? Genau dazwischen musst du halten.“
Kat setzte sich ans Heck und nahm das Steuer.
„Der rote Stern - das ist Vorcinger, der Kriegsgott,“ sagte sie. „Und die helle Sterngruppe ist das Sternbild des Drachen.“
Und leise murmelte sie: „...und da müssen wir durch!“
„Der Rote ist ein Wanderstern,“ rief Sven. „Der bleibt keine zwei Nächte am selben Fleck am Himmel.“
„Er hat seine Zyklen,“ erklärte Kat. „In einem Vierteljahr wird er im Sternbild des Drachen stehen. Andreas meinte, dann stünden der Welt unruhige Zeiten bevor.“
Wir erreichten den Ausgang der Bucht und der heftige Wind blähte die Segel. Sven trimmte die Leinen, ich übernahm die Steuerstange von Kat und brachte die Jolle hart an den Wind, um vom Land frei zu kommen.
„Setz dich an luv hin,“ rief ich Kat zu, die sich am Bordrand festhielt, als die Jolle sich zu neigen begann.
„Nein, nicht da - an backbord! Alle Sterne, die andere Seite, links!“
Kat kletterte hilflos im schrägen Heck umher, bis Sven und ich sie jeder an einem Arm packten und auf die Bank an backbord hievten. Blass klammerte sie sich an den Bordrand und starrte auf die hohen, schäumenden Wellenkämme um das tanzende Boot.
„Vielleicht hätten wir doch warten sollen, bis der Sturm sich legt,“ würgte sie.
„Ach was Sturm, das ist ideales Segelwetter,“ rief Sven durch den im Takelwerk heulenden Wind.
Kat beugte den Kopf über Bord und kotzte.
Eine Weile saß sie stumm und blass mit beiden Händen an die Bank geklammert da.
Irgendwann murmelte sie: „Wenn das gutes Wetter ist, möcht' ich keinen Sturm erleben.“
Als wir uns von der Küste entfernten und in tieferes Wasser gelangten, wichen die kurzen, steilen Wellenkämme der langen Dünung der offenen See. Das Boot hörte auf zu tanzen und hob und senkte sich im gleichmäßigen Rhythmus der großen Wellen. Ich gab mit dem Steuer nach, die Jolle zog in den Wind und wendete die Nase nordwärts. Jedes Mal, wenn das Boot auf einen Wellenberg gehoben wurde, tauchte in der Ferne das Land als schwarzer Streifen unter dem riesigen Sternenhimmel auf und verschwand gleich wieder, wenn die Jolle ins Wellental glitt. Kats Körperhaltung entkrampfte sich ein wenig. Mit mulmigen Blicken schaute sie auf die hohe Dünung, von der die Jolle wie ein Spielzeug gehoben und gesenkt wurde.
Ich blickte zurück. Die schmale Landzunge vor der Bucht war kaum noch auszumachen. Ein überwältigendes Gefühl der Freiheit überkam mich. Wir hatten uns aufgemacht, hinaus aus der Enge des Dorfs, weg von der Abgestumpftheit der Dorfleute - nach Norden, unbekannten Küsten und Ländern entgegen. Unser Abenteuer hatte begonnen.
***
Später, als alles vorbei war, bin ich noch einmal nach Brögesand zurückgekehrt. Aber ich fand keine fröhlich spielenden Kinder mehr zwischen aufgespannten Fischernetzen herumtollen. Leere, ausgebrannte Ruinen waren alles, was von meinem Heimatdorf geblieben war. Wie Skelette starrten die verkohlten Dachsparren in den wolkenverhangenen Himmel. Der heulende Wind trieb Sand durch die Bucht und deckte Reste von Holztrümmern zu, wo einst am Strand die großen Boote, der Stolz unseres Dorfs, auf die nächste Ausfahrt gewartet hatten.
Die Torglunder Kaufleute hatten zwei Kriegsschiffe ausgerüstet und die Küste herab gesandt, um sämtliche Fischerdörfer von Torglund bis nach Wedderhaven im Süden dem Erdboden gleich zu machen.
„Da vorn, das Leuchtfeuer von Zwiesund!“
Im fahlen Mondlicht hoben und senkten sich dunkle Wellenberge um unsere Jolle. Im Osten begannen die Sterne zu verblassen. Eine erste Ahnung des neuen Tages stieg hinter der schwarzen Küstenlinie auf. In den späten Nachtstunden vor dem Morgengrauen war der steife Wind aufgefrischt. Er jaulte in der Takelage und kräuselte die silbrig gischtenden Wellenkämme.
Kat saß in eine Decke gehüllt beim Mast an Backbord. Trotz der dicken Wolldecke zitterte sie vor Kälte.
„Was, wenn es sich um ein Irrfeuer handelt?“ fragte sie bibbernd.
Sven grinste. „Dann wird es gleich knirschen und splittern, wenn wir auf ein Riff laufen.“
„Sven hör auf, das ist überhaupt nicht lustig!“ schrie Kat.
Die gesamte Fahrt über hatte sie ängstlich die hohen Wellen beobachtet und sich bei jedem Schlingern an die Bank geklammert.
„Kat, sieh mal, das kann kein Irrfeuer sein, wir haben im Mondlicht ja völlig klare Sicht,“ versuchte ich sie zu beruhigen. „Schau, da vorn liegen die Zwiesunder Felseninseln, und dort ist deutlich das hohe Ufer mit der Landzunge und dem Leuchtfeuer zu sehen. Wenn hier irgendwo Felsen im Wasser lägen, könnte man sie sofort an der brechenden Brandung erkennen.“
Kat reckte vorsichtig den Hals aus der Wolldecke und blickte in die Richtung, die ich ihr zeigte. „Und wie weit ist es von Zwiesund noch bis Torglund?“
„Bei dem gutem Wind, den wir jetzt haben, noch zwei, drei Tage, heißt es - vorausgesetzt, das Wetter schlägt nicht um,“ meinte Sven. „Weiter als bis hier bin ich noch nie gesegelt.“
„Noch zwei Tage bis Torglund,“ stöhnte Kat. „Bis dahin bin ich tot!“
Vom Land her tasteten sich die ersten Sonnenstrahlen über die graugrüne See. Wir entdeckten eine kleine Bucht am steinigen Ufer, das sich jetzt südwestlich von uns hinzog. Wir hielten darauf zu und zogen die Jolle an Land. Sven und ich suchten Treibholz und trockenes Strauchwerk zusammen und Sven entfachte ein prasselndes Lagerfeuer. Die Wärme tat gut nach der durchwachten Nacht. Wir setzten uns dicht ans Feuer und hielten Spieße mit Brot und getrocknetem Fisch aus unserem Proviant über die Flammen.
Kat knabberte mit blassem Gesicht an einem Stück Brot und wärmte sich die Handflächen am Feuer. Noch immer hatte sie ihre Decke gegen den Wind um sich geschlungen. Sie blickte elend ins Feuer.
„Das ist meine erste Seereise überhaupt. Tut mir leid, wenn ich mich albern anstelle.“
„Schon in Ordnung,“ meinte Sven.
Ich ergänzte: „Wir haben einfach nicht dran gedacht, dass es Leute gibt, die nicht schon von Kindheit an mit Booten umgegangen sind. Wir hätten dich auf die Fahrt vorbereiten sollen.“
„Wart ab,“ versuchte Sven Kat zu aufzumuntern. „In ein paar Tagen kletterst du bei jedem Wellengang über Deck wie ein alter Seemann.“
Kat starrte ins Feuer.
Dann lachte sie bitter auf. „Ihr habt's geschafft, Jungs! Was keine Schlägertruppe besoffener Söldner in einem Kriegslager geschafft hat und auch kein in Sturm und Platzregen in knietiefem Drecksumpf versinkendes Zeltlager. Ich dachte immer, mich kann nichts mehr schrecken. Aber heute Nacht hat mir das Meer die Angst in die Knochen gejagt.“
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