„Ich hab's gewusst,“ murmelte ich.
Sven zögerte. „Und was ist, wenn das in Wirklichkeit ein Zauberer ist, der uns in eine Herde Schweine verwandelt, sobald wir auf seine Burg kommen?“
„So ein Quatsch,“ schrie Kat. „Wenn er uns übel mitspielen will, werden wir schon sehen, was wir machen. Außerdem gibt es das überhaupt nicht, dass Leute durch Zauberei in Tiere verwandelt werden. Jedenfalls nicht, so viel ich weiß.“
„Burg Dwarfencast liegt nach der Beschreibung dieses Alchimisten eine halbe Welt entfernt im Norden,“ meinte ich. „Wir werden Monate brauchen, bis wir da ankommen. Und die Herbststürme stehen bevor.“
Kat schnaubte. „Du Weichei! Vor ein bisschen Regen und Wind und Schnee hast du Angst? Außerdem brauchen wir überhaupt nicht lange, bis wir dort sind.“
Sie nickte mit dem Kopf zur Bucht. „Ihr könnt doch segeln!“
Empört schaute ich sie an. „Die Schiffe gehören der Dorfgemeinschaft. Sie sind lebenswichtig für das Dorf. Wir können nicht einfach eins stehlen.“
Kat blickte flammend zurück. „Du kannst kein Boot aus dem Dorf klauen?“
Mit ausgestrecktem Arm wies sie auf das um die Klippen schäumende Wasser vor der Landzunge. „Wie viele Schiffe habt ihr versenkt, ihr und die Männer aus deinem so geliebten Dorf? Glaubst du, die Jungen auf den Schiffen waren dankbar, dass ihr sie ersäuft und ermordet habt? Wie viele habt ihr auf dem Gewissen, du und Sven?“
Ich biss mir auf die Lippen. Die glasigen Augen toter Seeleute, in Panik aufgerissene Münder standen mir vor Augen.
„Hast ja recht, Kat,“ flüsterte ich. „Ist schon gut.“
„Gar nichts ist gut!“ schrie sie. „Verdammt gar nichts!“
Katrina holte tief Luft. Sie schüttelte sich, als wollte sie sich von etwas befreien.
Mit bebender Stimme sagte sie: „Wenn wir eins der Boote nehmen, geben wir ihm eine bessere Verwendung, als es jemals hatte.“
Sven setzte sich mit einem Ruck auf. „Wir nehmen die Jolle. Die segelt sich im harten Wind am besten. Und,“ fügte er hinzu, „sie wird nicht zum Fischfang gebraucht.“
Katrina atmete aus. Ihre Haltung entspannte sich.
Nach einer Weile fragte sie: „Wie lange werdet ihr brauchen, um das Boot fertig zu machen?“
Ich überlegte. „Um sie mit Ersatzspieren, Segeln und Tauen auszurüsten, brauchen wir vielleicht einen Nachmittag. Wir müssen nur aufpassen, dass niemand mitbekommt, was wir vorhaben. Viel zusammenzupacken haben wir nicht. Übernächste Nacht könnten wir aufbrechen, wenn das Wetter mitspielt.“
Kat blickte uns an. „Also dann übernächste Nacht!“
Es klang wie ein Befehl.
***
Die Nacht war vorgerückt. Alle Geräusche im Dorf waren erstorben. Ich lag wach auf meinem Lager und lauschte in die Dunkelheit. Hinten in der Hütte schnarchte mein Vater. Vorsichtig setzte ich mich auf und tastete nach meinen Kleidern. So geräuschlos wie möglich zog ich die Hosen an und streifte mein Hemd über. Meine Schuhe hatte ich vor der Hütte gelassen. Langsam stand ich auf. Die mit Stroh gedeckte Pritsche ächzte. Ich erstarrte und lauschte. Vater schnarchte unverändert weiter.
In der Dunkelheit tastete ich nach meinem Bündel und meinem Schwert. Mir war, als ginge auch in der vollkommenen Schwärze noch ein vager, silbriger Schimmer von der Klinge aus. Aber vielleicht bildete ich es mir nur ein. Ich packte meinen wollenen Regenüberwurf und schlich mich vorsichtig durch die mit Gegenständen vollgestellte Hütte.
Das Innere unserer Hütte kannte ich im Schlaf und schlängelte mich ohne das Geringste sehen zu können am Tisch, an Truhen und Körben vorbei zur Tür. Meine Hand ertastete den Riegel. Ich hielt den Atem an. Haaresbreite um Haaresbreite zog ich ihn zurück. Der Riegel machte ein schabendes Geräusch. Ich lauschte, bis mir die Stille in den Ohren klingelte. Der Atem meines Vaters ging ruhig weiter. Endlich hatte ich den Riegel zurückgeschoben. Ich zog die Tür einen Spaltbreit auf. Ein schmaler Lichtschimmer fiel herein. Ich erstarrte. Jemand stand hinter mir.
Die rauen Hände meiner Mutter fuhren mir übers Gesicht, durchs Haar.
„Leif, mein Junge,“ hauchte sie kaum hörbar. „Leb wohl.“
Ihr wettergegerbtes Gesicht war nah an meinem. Sie presste den Kopf an meine Brust. Ein Beben ging durch ihren Körper. Als sie den Kopf hob, waren ihre Augen nass von Tränen.
„Mögen die Sterne dich behüten, Junge.“
Ich spürte, wie mir Tränen in die Augen stiegen. „Und dich, Mutter.“
„Hier.“ Sie hielt mir einen faustgroßen, prall gefüllten Lederbeutel hin. Der Inhalt klimperte verdächtig.
„Mutter!“
Wenn Vater erfuhr, dass sie Geldmünzen aus der Truhe genommen hatte, würde er sie grün und blau schlagen.
„Nimm,“ flüsterte sie. „Und komm einmal wieder ins Dorf.“
„Ich versprech's. Mutter, woher wusstest du...“
Statt einer Antwort drückte sie ihre Stirn gegen meine Wange.
„Du bist doch mein Junge! Und nun lauf, sonst wacht dein Vater noch auf.“
Sie drückte mich sanft zur Tür hinaus. Ich erhaschte einen Blick aus ihren grauen Augen.
„Es ist gut, dass du gehst,“ flüsterte sie mit erstickter Stimme. „Viel Glück!“
Dann schob sie vorsichtig die Tür hinter mir zu. Ich hörte, wie sie langsam den Riegel vorschob.
Ich atmete tief durch. Kühler Nachtwind wehte durch meine Kleidung. Ich schnürte meine Schuhe zu, warf mir das Bündel über die Schulter und ging hinunter zum Strand. Es war eine großartige, sternenklare Nacht. Der Mond war noch nicht aufgegangen. Über dem schwarzen, in Schatten versunkenen Land funkelten Abertausende von Sternen. Ein stetiger, kalter Wind wehte aus Südwest - ideale Bedingungen.
Sven war schon unten beim Boot. Die Jolle war ein schmales, zwanzig Fuß langes Segelboot mit einem offenen Heck. Vor dem Mast waren Planken von einem Bord zum anderen aufgenagelt, wodurch die Jolle einen niedrigen, das Vorschiff umfassenden Laderaum besaß. Gemeinsam schoben wir die Jolle ins Wasser.
„Wo ist Kat?“ fragte ich.
„Keine Ahnung, hat sich noch nicht blicken lassen. Am Ende verschläft sie!“
„Sie wird schon kommen. Die verschläft nicht, Sven, da verwette ich meinen Kopf drauf.“
Wir zogen das dreieckige Focksegel und das wie bei den großen Kuttern an einer Gaffelstange schwingende Großsegel auf, um in den Wind gehen zu können, sobald wir den Ausgang der Bucht erreichten, und von den Klippen und den im Wasser liegenden Felsen frei zu kommen auf die offene See hinaus. Die Segel schlugen leise im Wind. Wir legten die Ruder bereit.
„Fehlt nur noch Kat.“
„Verdammt!“ Sven wies auf den Strand.
Ein Mann kam von den Hütten her auf den Strand heraus. Er hatte hohe Stiefel an und trug etwas Schweres auf dem Rücken.
Bei allen Sternen, wer ist das? Jetzt geht alles schief.
Und was war das an seiner Seite? Der Mann trug tatsächlich ein Schwert! Mit raschen Schritten kam er auf unser Boot zu.
„Kat!“ rief Sven voller Verblüffung.
Jetzt erkannte ich sie ebenfalls.
„Alles klar, Jungs?“ rief sie uns leise zu.
„Ja, aber Kat, du...“
„Was ist mit mir? Hier, fang mal auf.“ Sie nahm ihren Rucksack ab und warf ihn mir zu.
Ich keuchte, als ich ihr schweres Gepäck auffing.
„Kat, du trägst ja Hosen!“ stotterte Sven.
„Klar doch!“ Sie stieg ins Wasser und schwang sich über den Bordrand in die Jolle. „In Röcken auf Segeltour zu gehen, ist keine so gute Idee, oder?“
Sie schnallte ihr Schwert ab und legte es unter die Bank.
Ich verstaute ihr Gepäck in der Luke. „Sag mal, Kat, warum hast du uns eigentlich damals, als du ins Dorf kamst, gebeten, dir das Gepäck zu tragen?“
„Och - “ Sie setzte sich ans Bord auf die Bank und schaute sich erwartungsvoll um. „Ich fand euch so süß, wie ihr da an der Hauswand saßt und den anderen bei der Arbeit zuschautet und suchte einen Grund, mit euch ins Gespräch zu kommen. Klar kann ich mein Gepäck alleine tragen. Das ist ja wohl das Mindeste.“
Читать дальше