Kat überlegte. „Wenn es so weit ist, können wir ja nochmal darüber reden, am besten zusammen mit Sven und Lyana.“ Sie verzog das Gesicht. „Letztes Mal hat sie uns kalt erwischt. Vielleicht fällt uns diesmal was ein, bevor sie uns überrumpelt.“
Ich hatte meine Zweifel. Aber ich nickte.
***
Als wir am Nachmittag vor dem Turm trainierten, kam Sven dazu. Er sah uns zu, wie Lyana und ich unter Katrinas Anleitung kämpfen übten.
Gerade meinte Kat zu Lyana: „Nein, so nicht. Du vergeudest nur deine Kraft und gibst dir eine unnötige Blöße, wenn du ihm auf den Schild drischst. Ich zeig's dir.“
Sie nahm ihr Schwert in beide Hände und stellte sich vor mir auf. „Greif an!“
Ich ging auf sie los, ihr Schwert sauste blitzend durch die Luft, ich wusste nicht, ob sie mich zuerst am Kopf getroffen oder mir den Magen aufgeschlitzt hätte oder beides zugleich geschehen war.
Frustriert warf ich den Schild zu Boden. „Wozu ist das Ding nütze, wenn man keine Schläge damit abfangen kann?“
„Wozu?“ fragte Kat. „Gib mir den Schild mal.“
Sie nahm den Schild und stellte sich auf. „Willst du angreifen oder soll ich?“
„Du!“
Ich konzentrierte mich. Sie stürmte auf mich los, ich riss mein Schwert hoch und wehrte ihren Schlag ab. Im selben Moment rammte sie mir den Schild in den Bauch.
„Uff!“ Ich ging zu Boden.
Kat half mir auf und gab mir den Schild zurück. „Ihr müsst das ja nicht gleich perfekt können. Ich will euch nur zeigen, womit ihr rechnen müsst. Nochmal: Die Hauptsache ist, selbst anzugreifen. Dem Gegner keine Zeit lassen. Ihn beschäftigt halten, bis er sich eine Blöße gibt, stolpert oder durcheinander gerät. Und dann sofort zuschlagen ! Nicht andeuten oder drohen - sofort töten, mindestens kampfunfähig schlagen. Wenn er tot ist, seid ihr auf der sicheren Seite. Ein Verletzter, über den ihr hinwegsteigt, kann sich aufraffen und euch in den Rücken fallen. Klar?“
Lyana stand der Abscheu ins Gesicht geschrieben. „Ich hasse Kämpfen!“
„Du kannst das Kämpfen hassen, wann immer du willst,“ meinte Kat. „Nur nicht, wenn du kämpfst - oder du bist tot. Beim Kämpfen: nur kämpfen!“
Sven beobachtete Lyana und mich, während wir übten. Nach einer Weile begann er, Sprünge, Drehungen und Rollen durchzuführen. Er wirbelte herum und schwang seine Fäuste. Wir hielten inne.
„Alles in Ordnung, Sven? Geht's dir gut?“ wollte Kat wissen.
„Alles gut, Kat.“ Sven schnaufte vor Anstrengung. „Ich erklär' euch später, was das werden soll.“
***
Am Abend nach dem Essen ging Lyana in die Bibliothek. Sven zog sich in die Schmiede zurück. Kat fragte mich, ob ich einen Abendspaziergang machen wollte.
Wir schlenderten den schmalen Pfad die Küste entlang in Richtung Lüdersdorf. Kat legte ihren Arm um mich. Eine Weile gingen wir schweigend.
Irgendwann meinte ich: „Ich weiß, dass du traurig bist wegen Sven.“
Kat seufzte. „So ist es nun mal im Leben - man kann nicht alles haben. Das weiß ich doch auch.“
Sie blieb stehen. Während wir uns küssten, presste sie sich an mich und wühlte ihre Hände in meine Haare.
Eine kleine Ewigkeit später, als unsere Münder sich zögernd wieder von einander lösten, seufzte sie: „Ich bin so froh, dass ich dich habe, Leif - ich liebe dich so!“
Wir gingen weiter und ich nahm sie an der Hand. Über dem Horizont schob eine Wolkenbank sich vor die Sonne. Aus den flammenden Wolkenrändern brachen Sonnenstrahlen und sandten Lichtreflexe über die bleigraue See. Im kahlen Geäst des Waldes wurde der Himmel dunkel.
Vielleicht kommt ja doch alles hin.
Es war eine Hoffnung. Und diese Hoffnung hätte ich gegen nichts in der Welt eintauschen mögen.
„Übrigens habe ich in der Bibliothek in allen Geschichtswerken nachgeschaut, die den Nordwesten abhandeln,“ meinte Kat. „Es steht nirgends etwas über ein Halbaru oder eine Hauptstadt von Barhut. Der einzige, der das Königreich Barhut überhaupt erwähnt, ist Leonhard Knobloch. Und der schreibt nur, das Reich habe die Wetterberge und die Küstenregion nördlich davon bis zu den Hängen des Gebirges umfasst.“
„Halbaru kann überall gelegen haben - oder nirgends,“ sagte ich bitter.
„Hier herum ist nichts bekannt über eine Ruinenstadt,“ überlegte Kat weiter. „Es muss weiter nördlich gelegen haben.“
Es würde uns nichts übrig bleiben, als aufs Geratewohl die Küste hinaufzugehen in der Hoffnung, dass es sich bei den Ruinen auf der fernen Landzunge tatsächlich um Halbaru handelte.
Zwischen den Stämmen des Waldes wanderte eine Gestalt. Sie war in weite, dunkle Gewänder gehüllt. Ich blieb stehen.
„Kat...“ Meine Stimme war belegt.
Es war sie .
Ligeia kam uns durch den Wald entgegen. Ihre bloßen Füße fanden sicher ihren Weg zwischen Gestrüpp und am Boden liegenden Gezweig. Eine schwere Tasche aus Sackleinen baumelte an ihrer Schulter. Sie schürzte ihr Gewand bis zu den Knien, wenn sie über Äste stieg und während Kat neben mir „oh nein,“ murmelte, ertappte ich mich dabei, wie ich gebannt nach Ligeias schlanken Unterschenkeln schaute.
Sie kam vor uns auf den Weg heraus und warf sich mit einer schnellen Handbewegung die schwarzen Locken aus dem blassen Gesicht. Lächelnd trat sie auf uns zu.
„Hallo Leif.“ Sie lächelte mir zu, dann nahm sie Kat bei den Händen.
„Katrina! Wie geht es dir?“
Erstaunt stellte ich fest, dass die schmale, mädchenhafte Ligeia fast einen Kopf kleiner war als Kat. Auch bei meiner allerersten Begegnung mit ihr hatte sie auf mich gewirkt wie eine höchstens Sechzehnjährige. Kat stand wie zur Salzsäule erstarrt. Sie blickte Ligeia entsetzt an. Ligeia tat, als würde sie es nicht bemerken. Sie umarmte Kat und küsste sie auf den Mund.
„Ich habe ein Geschenk für dich, Katrina.“
„Ein Geschenk?“ stotterte Kat. „Aber wie...“
Ligeia ließ Kat los und holte ein speckiges Buch aus ihrer Leinentasche. Es sah sehr alt aus.
„Ich wollte es dir unbedingt bringen. Ich glaube, es wird dich interessieren.“
„Aber wieso... ich... das...“ Völlig überrumpelt blickte Kat abwechselnd auf das Buch, dann wieder auf Ligeia.
„Nimm es,“ lächelte Ligeia.
Kat nahm das Buch und schlug es vorsichtig auf. Sie wurde blass. „ „Die hohe Kunst des magischen Heilens“ von Ägidius Mulbast!“
Sie sah Ligeia fassungslos an, die still lächelte.
„Das Buch ist seit Jahrhunderten verschollen,“ rief Kat. „Das letzte Exemplar soll vor zweihundertfünfzig Jahren bei einem Bibliotheksbrand im Kloster Schwarzbach verbrannt sein! Das... das ist von unschätzbarem Wert!“
Ligeia lächelte noch immer. Sie sah Kat schweigend in die Augen.
„Wo hast du das Zauberbuch her?“ flüsterte Kat mit angehaltenem Atem.
„Sagen wir - ein früherer Verehrer hat es mir vermacht,“ schmunzelte Ligeia. „Es ist deins - ich schenke es dir. Lies das Kapitel über die fortgeschrittenen Wundheilzauber. Ihr werdet es nötig haben.“
Sie nahm mich an der Hand. Kat starrte noch immer mit offenem Mund auf das Buch.
„Das mit dem Gral ist ja nun eine Katastrophe,“ meinte Ligeia. „Nun müsst ihr schon wieder hinausziehen.“
Kat sah sie verwundert an. „Woher weißt du davon?“
„Die Raben erzählen mir so manches,“ lächelte Ligeia.
Sie trat neben mich. „Katrina, ich möchte mir deinen Liebsten für heute Nacht einmal ausborgen. Du hast doch nichts dagegen? Nur diese Nacht. Morgen früh bringe ich ihn dir gesund zurück - versprochen!“
Kat schoss das Blut ins Gesicht. Sie sah Ligeia und mich in hilfloser Verwirrung an.
„Ligeia, ich weiß nicht...“ versuchte ich einzulenken, aber sie strich mir über den Arm und raunte: „Still, mein Liebster!“
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