1 ...7 8 9 11 12 13 ...35 „Vorhin,“ bemerkte Lyana, „habt Ihr von Eurem Prinzregenten gesprochen. Euer Reich hat keinen König?“
„So ist es,“ brummte Zosimo. „Prinzregent Helgrim aus dem Geschlecht der Taskarro konnte bis zum heutigen Tage nicht gekrönt werden. Für die Krönungszeremonie ist der Karrak vonnöten. Wenn Helgrim durch die Magie des heiligen Karraks als rechtmäßiger Thronfolger bestätigt sein wird - zwar nicht in der alten Königsfeste, dem Krönungsort der Könige Karrakadars, aber Dank eurer Entdeckung im Gralstempel - dann werden alle Fürsten meines Volks sich ihm beugen. Die Zwerge werden dem Karrak folgen und dem rechtmäßigen König. Dieses Ziel zu erreichen, haben meine Väter und ich einen heiligen Eid geschworen.“
Er sah uns mit blitzenden Augen an. „...und ihr auch!“
Wütend funkelte er Kat an. „Und du faselst von schnödem Silber !“
Kat blickte dem Zwerg in die Augen. „Das eine wird dem anderen nicht im Wege stehen, Herr.“
„Ha!“ rief der Zwerg. „Edelmut und Selbstlosigkeit sind Rittertugenden!“
„Solange wir nicht in den heiligen Ritterstand erhoben sind, werden wir unser Dasein von schnödem Silber fristen müssen,“ meinte Kat.
Der Koch kam herein und stellte eine Platte mit gegrilltem Fleisch und kaltem Braten auf den Tisch.
„Bitte untertänigst zu verzeihen, Herr,“ murmelte er zwischen den Zähnen hindurch. „Die Pasteten kommen noch. Sie brauchen ihre Zeit im Ofen.“
„Pasteten!“ schnappte der Zwerg und griff sich eine Fleischscheibe mit den Fingern. „Ihr Menschen könnt alle nicht kochen! Ich möchte einmal, einmal nur wieder ein richtiges Stück Brot zwischen die Zähne bekommen. Von einem gut gesottenen Grottenmolch ganz zu schweigen!“
Der Koch zog hinter Zosimos Rücken eine unflätige Grimasse, die nur wir sehen konnten. Mit den Händen machte er eine Bewegung, als würde er ein Handtuch auswringen. Dann verließ er den Saal.
„Im Kloster las man uns eine Stelle aus dem „Buch der Historien“ vor,“ nahm ich das Gespräch wieder auf. „Dort hieß es, Gorloin, der Hohepriester des Seefahrervolks, habe sich im Gebirge im Norden beim „Auge der Weisheit“ niedergelassen. Sie glauben, zur Wintersonnenwende werde das „Licht der Weisheit“ die Welt erleuchten und alle Ungläubigen mit Feuer verbrennen. Steht tatsächlich so etwas in dem Buch geschrieben?“
Zosimo schaute mich zweifelnd an. „Hört sich nach einer Falschübersetzung an. Die Sage vom Gang Gorloins ins Gebirge ist dort allerdings geschildert.“
Kat hatte den Wortwechsel gespannt verfolgt. „Können wir die korrekte Übersetzung hören?“
Zosimo musterte uns. „Warum nicht? Kommt mit in die Bibliothek.“
Im dritten Stock folgten wir Zosimo durch die Geheimtür im Wandschrank in die Zauberkunde-Bibliothek. Der Burgherr entzündete den Leuchter vor dem Fenster. Hinter den trüben Scheiben warf der Sonnenuntergang einen roten Lichtfinger über die See bis an die Burgklippe. Im Raum war es kalt. Das Fenster klemmte seit Wochen und ließ sich nicht schließen. Das „Heilige Buch der Historien“ lag aufgeschlagen auf dem achteckigen Tisch. Vorsichtig blätterte Zosimo in den brüchigen Pergamentseiten.
Er suchte eine Weile, bis er meinte: „Hier ist die Stelle, von der ihr gesprochen habt.“
Mit zusammengekniffenen Augen buchstabierte er den Text.
„In eurer Sprache müsste es ungefähr so heißen: Gorloin, von den Menschen der Küste mit Waffengewalt geschlagen, zog sich nach Norden ins Gebirge zurück, wo er sich in der Bergfeste Kurmuk Dakar niederließ. Sie ist das älteste unserer Heiligtümer, vom edelsten der Fürstengeschlechter erbaut. Nun aber wird von Gorloins Macht vernichtet, wer sich der Feste nähert. Niemand kann ihm Auge in Auge gegenübertreten, ohne den Verstand zu verlieren und zu sterben. In Kurmuk Dakar harrt Gorloin der Zeit, zu der er die Küste erneut mit Krieg überziehen und erobern wird.“
Zosimo sah grimmig auf. „Der Fall Kurmuk Dakars, der Königsfeste, Sitz der Königsgeschlechter der Vorzeit, war eine Katastrophe, genau wie die Zerstörung Marduks. Bis heute wagt sich kein Zwerg in jene Gebirgsregion, wo den Legenden nach die alte Königsfeste liegt.“
Kat wunderte sich: „Wie kamen die Mönche darauf, im Norden befinde sich ein „Auge der Weisheit“? Im Text ist keine Rede davon. Sie haben mit einer magischen Linse danach ausgeschaut und dabei wirklich den Verstand verloren!“
Zosimo verzog den Mund. „Kurmuk Dakar bedeutet „wachsames Auge“, nicht „Auge der Weisheit“! Diese Mönche waren des Karrakadarischen offenbar nicht mächtig.“
Ich musste an das Grab auf den Geisterklippen denken. „Erinnert ihr euch an die Inschrift in Gorgons Grab? Dort hieß es, wenn der Gral ins Heiligtum zurückkehrt, wird Gorgon aus dem Grab auferstehen und mit einer Meergeborenenarmee die Küste erobern.“
„Und Gorloin wird aus den Bergen herabsteigen und an der Küste ein Reich gründen,“ ergänzte Lyana.
Zosimo blickte ärgerlich von ihr zu mir. „Was soll das heißen: „wenn der Gral ins Heiligtum zurückkehrt“? Aus dem Kulttempel der Seefahrer wollen wir ihn ja gerade herausholen!“
Keiner von uns wusste eine Antwort darauf.
Etwas anderes ging mir durch den Kopf. „Gorloin, der Hohepriester der Meergeborenen, hat vor zweitausend Jahren gelebt. Aber irgendetwas existiert dort oben im Norden.“
Sven nickte. „Ich hab's selbst gesehen, oder besser: Es hat mich gesehen. Da ist ein Auge . Ein lebendiges Auge ! Und es ist kein menschliches Auge!“
Zosimo zuckte mit den Achseln. „Was auch immer dieser Gorloin in den Bergen für eine Teufelei gewirkt hat - die Ritter Karrakadars werden damit fertig werden, sobald die Macht des Grals sie vereinigt.“
Lyana und ich wechselten einen Blick. Ich fragte mich, ob der Zwerg nicht eine Riesendummheit vorhatte. Lyana nickte nachdenklich.
Kat trat einen Schritt auf den Zwerg zu. „Wenn wir morgen mit Euch den Gral aus dem verborgenen Kultraum geholt haben, dann möchten wir den Lohn für die sechs Wochen ausgezahlt bekommen, die wir in Eurem Auftrag unterwegs waren. Sechs Silberlinge für jeden!“
„Morgen?“ rief Zosimo. „So lange warten wir nicht! Es ist noch nicht einmal Mitternacht. Wir holen den Gral jetzt herauf!“
Wir starrten unseren Dienstherrn an. Vor kaum einer Stunde war er von seinem Gewaltritt zurückgekehrt. Er musste gestern und heute ohne Pause von Tagesanbruch bis zur Abenddämmerung durchgeritten sein. Und in Marduk hatte er bestimmt nicht ausgeruht, sondern die Höhlenstadt erkundet. Nicht einmal das Kettenhemd hatte er abgelegt. Erschöpfung war ihm nicht anzumerken. Die kleinen Augen in dem roten Gesicht funkelten vor Unternehmungslust.
„Was ist?“ rief er. „Wie lange wollt ihr dastehen und Löcher in die Luft gaffen? Ab Marsch! Runter ins Tempelgewölbe!“
Er nahm einen hühnereigroßen, rötlich glänzenden Edelstein von einem Samtkissen im Regal: den „Rubin der Schlange“, den wir auf den Geisterklippen entdeckt hatten.
Lyana befahl er: „Bring dein magisches Schwert!“
Wir wollten den Bibliotheksraum bereits verlassen, als er Luft holte und sich aufrichtete.
„Diese Stunde wird in die Annalen Karrakadars eingehen. Der heilige Karrak kehrt aus der Versenkung zurück! Und ich werde sein Träger sein.“
Zosimos Augen blinkten feucht, als er murmelte: „... der Meister des Gralselixiers!“
***
Vor unseren Zimmern im dritten Stock sagte Kat: „Holt eure Waffen.“
Wir gingen hintereinander die Wand entlang, um den golddurchwirkten Teppich nicht betreten zu müssen, der bis auf einen schmalen Streifen an der Wand den Boden des Zentralraums bedeckte.
Ich verzog mein Gesicht. „Waffen?“
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