Die Familien gingen nach Eibenstock bzw. nach Elterlein im mittleren Erzgebirge, aber auch in das Hammerwerk Thannenbergsthal im oberen Vogtland. Tapfer und ehrlich erkämpften sie ihr einfaches Leben, arbeitsam und anspruchslos in einer kargen Umwelt. Einfache Menschen … so war auch meine Großmutter.
Zwei Eigenschaften aus den verwandtschaftlichen Linien wurden meinem Vater mitgegeben: Die Liebe zur heimatlichen Scholle und die Bindung an Grund und Boden. Erst die Wurzellosigkeit des selbst gewählten Berufs eines Juristen mit dem Leben in der erdrückenden Enge der Stadt haben meinem Vater gezeigt, wie sehr sein eigentliches Wesen und Fühlen an seiner vogtländischen Heimat hing. Das Schicksal zwang ihn aber auf einen anderen Weg.
Die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg
Das Leben in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg lief für die Menschen in Deutschland in ruhigen Bahnen. Es war, so wie es mein Vater aus seiner Sicht sah, ein Leben ohne große Probleme. Sein Elternhaus und die Umgebung hatten den Lebenszuschnitt des mittelständischen Bürgers. Man lebte einfach, ohne Luxus und großen Aufwand, aber in der Sicherheit einer festen Lebensgrundlage. Mein Großvater wurde in seiner Umgebung für wohlhabend gehalten, was aus Sicht von Außenstehenden sicherlich auf seinen Grundbesitz zurückzuführen war. Und doch bestand nie das Gefühl, dass nicht immer gespart werden müsste. Der Zwang zur „Bescheidenheit“ in der Lebensführung wurde meinem Vater und seinen Geschwistern von den Eltern ständig vorgehalten, zum einen unter dem Hinweis auf die eigene erfahrene Erziehung zur Bescheidenheit, zum anderen war es die Belehrung, dass es anderen Mitmenschen nicht so gut ginge. Es war aber für die Kinder nicht immer einzusehen. Mancher Mitschüler meines Vaters fuhr mit der Straßenbahn zur Schule, mein Vater hingegen musste laufen. Von allen Geschwistern hatte nur seine Schwester Annemarie Mathilde einmal für einige Zeit eine Monatskarte für die Straßenbahn. Ein Fahrrad, der sehnliche Wunsch meines Vaters, wurde ihm oft versprochen. Bekommen hat er es nie. Als im Gymnasium mancher Mitschüler als Sohn eines vermögenden Fabrikanten oder eines höheren Beamten einen besseren Lebensstil erkennen ließ, wuchs in meinem Vater das Gefühl, einen besseren Lebensstandard nur durch eigene Leistung erreichen zu können. Dabei hatte sein Vater 1913 bei der Erhebung des Wehrbeitrages ein Vermögen von 250 000 Mark versteuert.
Sonntags gab es einen Braten, in der Woche ein- bis zweimal Fleisch. Das Abendbrot war einfach. Reste vom Mittagessen wurden „aufgewärmt“ oder Wurst und Brot gegessen. Mein Vater hat nie erlebt, dass auf das Brot außer der Butter auch noch etwas Marmelade aufgestrichen wurde. Kuchen für den Sonntag wurde zu Hause gebacken. Meistens gab es den überlieferten „Hefenkloß“, je nach Jahreszeit wurden aber auch andere, flache Kuchen gebacken. In den Zeiten der Entbehrlichkeit steckten übrigens die hölzernen Kuchendeckel zum Schutz gegen das nächtliche Herausfallen in den Kinderbetten zwischen Bettgestell und Matratze.
Wein für die Eltern hat mein Vater auf dem Mittagstisch nur einige Male zum Weihnachtsbraten erlebt. Bier wurde zuweilen im Krug aus einer der Wirtschaften in der näheren Umgebung geholt. Wenn mein Vater losgeschickt wurde, um Zigarren zu holen, dann waren es immer sechs Stück zu acht Pfennigen. Wurde auf einem Spaziergang eingekehrt, z.B. in die Pfaffenmühle, dann gab es höchstens ein Würstchen und eine Brauselimonade, die, je nach Auswahl, grellgrün, rot oder gelb war. Im Herbst wurden Äpfel und Birnen eingelagert und Preiselbeeren sowie Heidelbeeren eingekocht. Die Beerenhändler zogen mit kleinen Wagen durch die Straßen und man hörte von weitem ihr Rufen „Heedelbeer, Heedelbeer!“ Kirschen und Pflaumen wurden von vorbeifahrenden Händlern im Korb erstanden. Sauerkraut und Gurken legte die Hausfrau selbst ein. Südfrüchte wurden selten gekauft. Die erste Banane hat mein Vater um 1912 gegessen. Apfelsinen, die sehr sauer waren, wurden vor dem Genuss in Zucker gelegt. Anschließend wurde eine Apfelsine für die ganze Familie aufgeteilt. Spargel hat mein Vater erst als Student in Leipzig um 1920 das erste Mal mit Bewusstsein gegessen. Tomaten, die sein Onkel Ernst Philipp Kießig (1868 – 1929) in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts selbst angebaut hatte, wurden als etwas Besonderes betrachtet und „Paradiesäpfel“ genannt. Sein Onkel hatte die Tomate während seines Aufenthaltes in USA kennen gelernt. Mein Großvater hat nach Beginn des Ersten Weltkrieges begonnen, Tomaten in seinem Garten anzubauen. Pfirsiche waren meinem Vater in seiner Jugend ganz unbekannt. Der Grund: Der Pfirsichbaum gedieh nicht in dem rauen Klima des Vogtlandes. Den Nussbaum hat er erst als Student kennen gelernt. Die Massenanfuhr von Erdbeeren, Spargel und Pfirsich aus den Obstanbaugebieten der Elbe in das Vogtland und Erzgebirge wurde erst möglich, als das Lastauto den Verkehr beherrschte. Kartoffeln wurden für das ganze Wirtschaftsjahr eingekellert. Die Wäsche wurde im Garten hinter dem Haus auf dem Rasen gebleicht. In der Waschküche im Kellerbereich befanden sich der beheizbare Waschkessel, das Waschbrett und ein Wäschewringer. 1911 legten sich meine Großeltern eine elektrische Waschmaschine zu. Sie wurde, gegen Entgelt, nicht nur von den Hausbewohnern, sondern sogar von Nachbarn benutzt.
Die Arbeiter in allen Betrieben arbeiteten von 6 Uhr bis 18 Uhr mit 3 Pausen täglich 10 Stunden. Am Sonnabend wurde bis 17 Uhr gearbeitet. Die Schule begann vom dritten Schuljahr an regelmäßig um 7 Uhr während des Sommers und um 8 Uhr im Winter. In den Oberklassen hatten die Schüler zweimal wöchentlich nachmittags Unterricht.
In Haselbrunn gab es auch einen Kramladen, der „Colonialwarenladen“ genannt wurde. Er führte alles in seinem Angebot, vom Petroleum über Holzpantoffel, Pferdepeitschen und Schnupftabak bis zum Bückling, der Leberwurst, Brot, Mehl und Bleichsoda. Wenn die Kutscher Frühstückspause machten und ihr Bier tranken, war der Kramladen auch gleichzeitig Frühstücksstube. Das Duftgemisch in einem solchen Kramladen war bemerkenswert. Oft genug schmeckte der Harzer Käse nach Petroleum. Viele Händler kamen aber auch noch ins Haus. Haushaltsgeräte aus Blech und Holz wurden in Wagen umhergefahren oder in die Häuser getragen. Der „Lettermann“ mit Leitern, Wannen und Besen war ein Ereignis auf der stillen Straße. Seine Ankunft verriet „ander Wetter“. Kroaten mit Blech und Mausefallen, Italiener mit Gipsfiguren, andere Händler mit Stoffen oder englischem Heftpflaster waren ständige Gäste. Das Schild an der Haustür „Betteln und Hausieren verboten“ hatte eine echte Bedeutung. Auch arbeitsscheue Bettler, ja sogar Zigeuner [3], zogen durch das Land. Scherenschleifer und Kesselflicker verrichteten ihre Arbeit im Hof oder auf der Straße. Man konnte darauf warten. Manches gesprungene Tongeschirr wurde von einem Kesselflicker mit einem Drahtnetz versehen. Mancher Bettler bekam ein Essen. Andere Bettler ließen das Brot vor der Tür liegen.
Im Herbst wurden Schafherden und Gänseherden aus Pommern und Schlesien durch Haselbrunn getrieben. Die Tiere wurden unterwegs zum Mästen für den Winter abgesetzt. Gemächlich zogen sie mit Lärm und viel Staub ihres Weges. Der Fußweg vor dem Haus auf der Haselbrunner Straße musste zweimal wöchentlich gekehrt werden. Im Winter musste bis 8 Uhr vor dem Haus „Bahn gemacht“ werden, das heißt, bis dahin musste der Gehweg schneefrei sein. Das war schon bald die Aufgabe für meinen Vater.
Wie stand es um die Preise in jener fernen Zeit? Zwei Semmeln kosteten 5 Pfennige, das Dreierbrot einen Dreier (Drei-Pfennig-Stück). Zwölf Stahlfedern kosteten einen Groschen [4], ein Schulheft 5 Pfennige. Das Schulgeld für das Gymnasium machte mit 150 Mark schon eine Menge Geld aus. Ein Glas Bier kostete 12 Pfennige, die billigste Zigarre 4 Pfennige und 12 der billigsten Zigaretten 10 Pfennige. Eine damals gängige Zigarettenmarke war „Luccas“, die ein langes Papphohlmundstück trug. Der Straßenbahnfahrpreis lag bei 10 oder 15 Pfennigen. Der Schneiderlohn für einen Anzug betrug 70 Mark. Die Arbeiter in der Ziegelei gingen mit einem Wochenlohn von 15 Mark nach Hause. Die direkten Steuern waren minimal.
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