»Herr Rougon!« rief die Dame, endlich ihr Gesicht zeigend. Es war Frau Correur in einem mit einem Rosensträußchen garnierten Hut.
Rougon, der wütend, die Fäuste geballt, näher gekommen war, ergab sich in sein Schicksal, drückte der Eintretenden die Hand und dienerte.
»Ich habe Merle gefragt, wie es ihm hier gefällt«, sagte Frau Correur und ließ dabei ihren Blick zärtlich auf dem großen Kerl von Türhüter ruhen, der aufrecht und lächelnd vor ihr stand. »Und Sie, Herr Rougon, sind Sie mit ihm zufrieden?«
»Aber ja, gewiß doch«, erwiderte Rougon liebenswürdig.
Merle behielt sein verzücktes Lächeln, die Augen starr auf Frau Correurs üppigen Hals gerichtet. Sie warf sich in die Brust, brachte mit einer Hand die Locken an den Schläfen in Ordnung.
»Es geht also gut, junger Mann«, sagte sie. »Wenn ich jemanden unterbringe, möchte ich, daß alle zufrieden sind ... Und wenn Sie einen Rat brauchen sollten, so kommen Sie zu mir, morgens, Sie wissen ja, zwischen acht und neun. Also, seien Sie brav.«
Und mit den an Rougon gerichteten Worten: »Nichts geht über die ehemaligen Soldaten«, trat sie ganz in das Arbeitszimmer. Dann gab sie ihn nicht mehr frei; sie führte ihn mit kleinen Schritten zu dem Fenster am anderen Ende und zwang ihn so, den ganzen Raum zu durchqueren. Sie schalt ihn, weil er nicht aufgemacht hatte. Wenn sich Merle nicht bereit gefunden hätte, sie durch die kleine Tür hereinzulassen, hätte sie also draußen bleiben müssen? Doch Gott wisse, wie nötig es für sie sei, ihn zu sprechen! Denn schließlich könne er doch nicht einfach weggehen wollen, ohne ihr zu sagen, wie es um ihre Bittgesuche stehe. Sie zog ein kleines, sehr kostbares, in rosa Moiré gebundenes Notizbuch aus der Tasche.
»Ich habe den ›Moniteur‹ erst nach dem Frühstück gesehen«, sagte sie. »Ich habe sofort eine Droschke genommen ... Hören Sie, wie steht es mit der Angelegenheit von Frau Leturc, der Hauptmannswitwe, die um einen Tabakladen bittet? Ich habe ihr für nächste Woche eine Entscheidung versprochen ... Und die Sache jener jungen Dame, Sie wissen schon, Herminie Billecoq, eine frühere Schülerin von Saint Denis26, die ihr Verführer, ein Offizier, zu heiraten eingewilligt hat, falls irgendeine ehrliche Seele die vorgeschriebene Mitgift vorstrecken will. Wir hatten an die Kaiserin gedacht ... Und all die anderen Damen, Frau Chardon, Frau Testanière, Frau Jalaguier, die seit Monaten warten?«
Rougon antwortete in aller Ruhe, erklärte die Verzögerungen, ging auf die geringsten Einzelheiten ein. Er gab Frau Correur jedoch zu verstehen, daß sie von nun an sehr viel weniger auf ihn zählen dürfe. Da wurde sie tieftraurig. Es beglücke sie doch so sehr, anderen zu helfen! Was denn aus ihr und allen diesen Damen werden solle? Und sie endete damit, von ihren persönlichen Angelegenheiten zu sprechen, die Rougon genau kannte. Sie wiederholte, daß sie eine Martineau sei, von den Martineaus in Coulonges, einer guten Familie aus der Vendée, in der man bis zu sieben aufeinanderfolgende Generationen Notare nachweisen könne. Niemals ließ sie sich deutlich darüber aus, wie sie selber zu dem Namen Correur gekommen war. Im Alter von vierundzwanzig Jahren war sie mit einem Metzgerburschen durchgebrannt, nachdem sie sich einen ganzen Sommer lang mit ihm in einem Schuppen getroffen hatte. Ihr Vater hatte unter dem Schlag dieses Skandals, einer Ungeheuerlichkeit, von der man noch jetzt in jener Gegend sprach, sechs Monate lang mit dem Tode gerungen. Seit jener Zeit lebte sie in Paris, für ihre Familie sozusagen gestorben. Zehnmal hatte sie an ihren Bruder, der jetzt dem Notariat vorstand, geschrieben, ohne ihn zu einer Antwort bewegen zu können; und dieses Schweigen legte sie ihrer Schwägerin zur Last; »eine Frau, die es mit den Pfaffen hält, die diesen Dummkopf Martineau an der Nase herumführt«, sagte sie. Eine ihrer fixen Ideen war, wie Du Poizat nach Coulonges zurückzukehren, um sich dort als sehr wohlhabende und geachtete Frau zu zeigen.
»Noch vor acht Tagen habe ich geschrieben«, murmelte sie. »Ich wette, sie wirft meine Briefe ins Feuer ... Dennoch müßte sie mir, wenn Martineau stürbe, das Haus ganz weit auftun. Sie haben keine Kinder, ich würde wichtige Angelegenheiten zu regeln haben. Martineau ist fünfzehn Jahre älter als ich und leidet, wie man mir erzählt hat, an Gicht.«
Dann änderte sie plötzlich den Ton und sagte: »Nun, denken wir nicht mehr an all das ... Jetzt geht es darum, daß man sich für Sie einsetzt, nicht wahr, Eugène? Und man wird sich einsetzen, das werden Sie sehen. Es ist unbedingt nötig, daß Sie alles sind, damit wir überhaupt etwas sind ... Erinnern Sie sich noch an einundfünfzig?«
Rougon lächelte. Und als sie ihm mütterlich beide Hände drückte, neigte er sich zu ihrem Ohr und flüsterte: »Falls Sie Gilquin sehen, sagen Sie ihm, er solle vernünftig sein. Hat er es sich doch in der vorigen Woche einfallen lassen, nachdem er sich so benommen hatte, daß man ihn auf die Wache brachte, meinen Namen anzugeben, damit ich hingehen und seine Freilassung fordern sollte!«
Frau Correur versprach, mit Gilquin zu reden, einem ihrer früheren Mieter aus jener Zeit, da Rougon im Hôtel Vanneau wohnte, einem sehr nützlichen Burschen, wenn es darauf ankam, der aber von einer recht kompromittierenden Liederlichkeit war.
»Ich habe eine Droschke unten, ich mache mich davon«, sagte sie mit einem Lächeln und sehr laut, während sie in die Mitte des Zimmers zurückkehrte.
Und trotzdem blieb sie noch einige Minuten, von dem Wunsch erfüllt, die ganze Clique mit ihr zugleich fortgehen zu sehen. Um einen allgemeinen Aufbruch herbeizuführen, bot sie sogar an, jemanden in ihrer Droschke mitzunehmen. Der Oberst nahm an, und man kam überein, daß der kleine Auguste neben dem Kutscher sitzen solle. Dann begann ein großes Händeschütteln. Rougon hatte sich in die Nähe der weit offenen Tür gestellt. Alle, die an ihm vorbeigingen, sprachen ihm noch einmal mit ein paar phrasenhaften Worten ihre Anteilnahme aus. Herr Kahn, Du Poizat und der Oberst reckten den Hals, flüsterten ihm ganz leise etwas ins Ohr, damit er sie nicht vergäße. Die Charbonnels waren schon auf der obersten Treppenstufe, und Frau Correur plauderte im Hintergrund des Vorzimmers mit Merle, während sich Frau Bouchard, auf die in ein paar Schritt Entfernung Herr d'Escorailles und ihr Gatte warteten, noch sehr anmutig, sehr sanft bei Rougon versäumte und ihn fragte, zu welcher Stunde sie ihn ganz allein in der Rue Marbeuf sprechen könne, weil sie in Gegenwart anderer allzu blöd sei. Als aber der Oberst sie diese Bitte äußern hörte, machte er plötzlich kehrt; die anderen folgten ihm, alle kamen wieder herein.
»Wir alle werden Sie besuchen!« rief der Oberst.
»Sie dürfen sich nicht vergraben«, sagten mehrere Stimmen.
Herr Kahn bat mit einer Handbewegung um Ruhe. Dann gab er den großartigen Satz von sich: »Sie gehören nicht mehr sich selbst, Sie gehören Ihren Freunden und Frankreich.«
Und endlich brachen sie auf. Rougon konnte die Tür wieder schließen. Er stieß einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus. Da kam Delestang, den er ganz vergessen hatte, hinter dem Haufen Pappkästen hervor, in dessen Schutz er soeben als gewissenhafter Freund das Ordnen der Papiere beendet hatte. Er war ein wenig stolz auf seine Leistung. Er handelte, indes die anderen redeten. So nahm er denn auch mit wahrem Genuß die lebhaften Dankesbezeigungen des großen Mannes entgegen. Nur er verstehe wirklich, einem hilfreich zu sein; er habe Sinn für Ordnung und eine Arbeitsweise, womit er es weit bringen werde. Und Rougon fand noch mehrere andere schmeichelhafte Dinge, ohne daß sich erkennen ließ, ob er sich nicht lustig machte. Dann, sich umwendend und einen Blick in alle Winkel werfend: »Aber nun sind wir, glaube ich, dank Ihrer fertig ... Man braucht nur noch Merle den Auftrag zu geben, diese Bündel da zu mir bringen zu lassen.«
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