Er rief den Türhüter, bezeichnete ihm seine persönlichen Akten.
Auf alle Anweisungen antwortete der Türhüter: »Jawohl, Herr Präsident!«
»Ach, Sie Trottel«, schrie Rougon schließlich gereizt, »nennen Sie mich doch nicht mehr Präsident, ich bin es ja nicht mehr!«
Merle verbeugte sich, machte einen Schritt auf die Tür zu und blieb zögernd stehen. Er kehrte zurück und sagte: »Unten ist eine Dame zu Pferde, die wünscht, Herrn ... Sie hat lachend erklärt, sie würde bestimmt heraufreiten, wenn nur die Treppe breit genug wäre ... Sie wollte dem Herrn nur die Hand drücken.«
Rougon ballte schon die Fäuste, weil er es für einen Scherz hielt. Aber Delestang, der durch ein Fenster des Treppenabsatzes geschaut hatte, kam angelaufen und murmelte mit sehr erregtem Gesicht: »Fräulein Clorinde!«
Da ließ Rougon ihr ausrichten, daß er hinunterkomme. Als Delestang und er dann nach ihren Hüten griffen, sah er ihn, erstaunt über seine Erregung, mit gerunzelten Brauen und argwöhnischer Miene an.
»Hüten Sie sich vor den Frauen!« wiederholte er.
Und von der Schwelle aus schenkte er dem Arbeitszimmer einen letzten Blick. Durch die drei offengebliebenen Fenster fiel das volle Tageslicht herein, beleuchtete grell die ausgeräumten Schränke, die umherliegenden Schubfächer, die verschnürten und mitten auf dem Teppich aufgehäuften Bündel. Das Arbeitszimmer sah sehr groß, sehr trübselig aus. Im Kamin hatte die Masse der in ganzen Packen verbrannten Schriftstücke nur eine kleine Schaufel voll schwarzer Asche zurückgelassen. Als er die Tür schloß, erlosch die auf einer Ecke des Schreibtisches vergessene Kerze, wobei der kristallene Leuchtereinsatz mit lautem Klang in der Stille des leeren Zimmers zersprang.
Nachmittags gegen vier Uhr pflegte sich Rougon zuweilen für kurze Zeit zur Gräfin Balbi zu begeben. Er ging als Nachbar hin, zu Fuß. Die Gräfin bewohnte ein kleines Palais, ein paar Schritte von der Rue Marbeuf entfernt, an der Avenue des ChampsElysées. Übrigens war sie selten zu Hause; und wenn sie zufällig anwesend war, lag sie zu Bett und ließ sich entschuldigen. Das verhinderte nicht, daß das Treppenhaus des kleinen Palais von einem Heidenlärm geräuschvoller Besucher erfüllt war und daß unaufhörlich die Türen der Salons schlugen. Ihre Tochter Clorinde empfing in einem langen schmalen Raum, einer Art Maleratelier, das nach der Avenue zu große verglaste Öffnungen hatte.
Fast drei Monate lang hatte sich Rougon mit der Brutalität eines keuschen Mannes dem entgegenkommenden Verhalten dieser Damen gegenüber, die sich ihm auf einem Ball des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten hatten vorstellen lassen, sehr ablehnend benommen. Er begegnete ihnen überall, stets zeigten die beiden das gleiche auffordernde Lächeln, immer schwieg die Mutter, sprach das junge Mädchen anmaßend und sah ihm gerade in die Augen. Und er war standhaft, er mied sie, schlug die Augen nieder, um sie nicht zu sehen, lehnte die Einladungen ab, die sie ihm zukommen ließen. Immer wieder bedrängt, verfolgt bis in sein Haus hinein, an dem Clorinde mit Vorliebe vorbeizureiten schien, zog er dann Erkundigungen ein, bevor er sich zu ihnen wagte.
In der italienischen Botschaft äußerte man sich zu ihm sehr günstig über diese Damen: den Grafen Balbi habe es tatsächlich gegeben; die Gräfin unterhalte hohe Beziehungen in Turin; die Tochter schließlich sei noch im vergangenen Jahr nahe daran gewesen, einen kleinen deutschen Fürsten zu heiraten. Aber als sich Rougon anschließend an die Herzogin Sanquirino wandte, sah die Sache ganz anders aus. Dort versicherte man ihm, Clorinde sei zwei Jahre nach dem Tode des Grafen geboren; übrigens gehe eine sehr verwickelte Legende über das Ehepaar Balbi um, der zufolge Mann und Frau eine Menge Abenteuer hinter sich hätten, beiderseits Ausschweifungen, eine in Frankreich ausgesprochene Scheidung, eine in Italien überraschend vollzogene Aussöhnung, nach der sie in einer Art wilder Ehe gelebt hätten. Ein junger Botschaftsattaché, sehr auf dem laufenden über das, was sich am Hofe Viktor Emanuels27 zutrug, wurde noch deutlicher: wenn die Gräfin dort unten noch Einfluß besitze, so verdanke sie das seiner Ansicht nach einem früheren Liebesverhältnis mit einer sehr hochgestellten Persönlichkeit; und er ließ durchblicken, daß sie in Turin geblieben sein würde, hätte sich nicht ein gewisser ungeheurer Skandal ereignet, über den er sich nicht näher auslassen könne. Rougon, allmählich von dem Reiz seiner Nachforschungen gepackt, ging bis zur Polizeipräfektur, wo er nichts Genaues ermitteln konnte; die Akten über die beiden Ausländerinnen stellten diese lediglich als zwei Frauen dar, die auf großem Fuß lebten, ohne daß etwas von einem ihnen gehörenden soliden Vermögen bekannt gewesen wäre. Sie behaupteten, Güter in Piemont zu besitzen. Tatsächlich war es zuweilen mit ihrem Aufwand plötzlich zu Ende; dann verschwanden sie auf einmal, um bald in neuem Glanz wieder aufzutauchen. Kurz, man wußte nichts über sie; man zog es vor, nichts zu wissen. Sie verkehrten in der besten Gesellschaft, ihr Haus wurde als neutraler Boden anerkannt, auf dem man Clorindes Überspanntheit als eine fremdländische Blüte duldete. Rougon entschloß sich, diese Damen zu besuchen.
Beim dritten Besuch hatte die Neugier des großen Mannes zugenommen. Er war von einer schwerfälligen Sinnlichkeit, die nur sehr langsam erwachte. Was ihn zunächst an Clorinde anzog, war das Prickelnde des Unbekannten, ihre ganze Vergangenheit, eine sie völlig beherrschende Zukunftsvorstellung, die er auf dem Grunde dieser großen Augen, den Augen einer jungen Göttin, zu lesen vermeinte. Wohl hatte man ihm abscheuliche Geschichten erzählt von einer ersten Schwäche für einen Kutscher und von einem später mit einem Bankier abgeschlossenen Geschäft, der die Scheinjungfräulichkeit des Fräuleins aus dem kleinen Palais der ChampsElysées bezahlt habe. Aber in manchen Stunden erschien sie ihm so kindlich, daß er zu zweifeln begann, sich fest vornahm, sie zu Geständnissen zu bewegen, und wiederkam, um das Geheimnis dieses seltsamen Mädchens zu ergründen, die, ein lebendes Rätsel, ihn schließlich ebensosehr beschäftigte wie ein schwieriges Problem der hohen Politik. Bis dahin war er ein Frauenverächter gewesen, und die erste, an die er geriet, war bestimmt der komplizierteste Mechanismus, den man sich vorstellen konnte.
Am Tage nach jenem, an dem Clorinde auf ihrem Mietspferd erschienen war, um Rougon an der Tür des Staatsrats teilnahmsvoll die Hand zu drücken, hatte er ihr einen Besuch gemacht, den sie übrigens nachdrücklich gefordert hatte. Sie müsse, hatte sie gesagt, ihm etwas zeigen, das ihn aus seiner trüben Stimmung reißen werde. Er nannte sie lachend »mein Laster«; er vergaß gern bei ihr die Zeit, belustigt, geschmeichelt, aufmerksamen Geistes, um so mehr, als er noch an ihr herumbuchstabierte, womit er noch nicht weitergekommen war als am ersten Tag. Als er um die Ecke der Rue Marbeuf bog, warf er einen Blick in die Rue du Colisée, auf das Stadthaus Delestangs, den er schon mehrmals dabei ertappt zu haben glaubte, wie er, das Gesicht zwischen den halb geöffneten Sommerläden, von der anderen Seite der Avenue aus nach Clorindes Fenstern spähte; aber die Läden waren geschlossen, Delestang mußte wohl morgens auf sein Mustergut La Chamade gefahren sein.
Die Tür des Palais Balbi stand stets weit offen. Rougon traf am Fuß der Treppe eine kleine, dunkelhäutige, schlecht frisierte Frau in einem zerlumpten gelben Kleid, die wie in einen Apfel in eine Orange biß.
»Antonia, ist Ihre Herrin zu Hause?« fragte er sie.
Sie antwortete nicht, da sie den Mund voll hatte, bewegte nur heftig und lachend den Kopf. Ihre Lippen waren ganz verschmiert vom Orangensaft; sie kniff die kleinen Augen zusammen, die wie zwei Tintenflecke auf ihrer braunen Haut aussahen.
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