»Sie tun nicht gut daran, sich in diesem Schmutz aufzuhalten«, sagte Rougon, damit beschäftigt, die Schubfächer zu leeren, die nicht anzurühren er Delestang gebeten hatte.
Aber die junge Frau, ganz rosig vom Husten, versicherte ihm, daß sie sich sehr wohl fühle und ihr Hut den Staub vertragen könne. Und die Clique konnte ihre Anteilnahme gar nicht genug bekunden. Der Kaiser kümmere sich wahrlich nicht um das Wohl des Landes, wenn er sich von seines Vertrauens so wenig würdigen Männern umgarnen lasse. Frankreich erleide einen Verlust. Übrigens sei das immer so: gegen einen großen Geist verbündeten sich stets alle Mittelmäßigen.
»Regierungen sind undankbar«, erklärte Herr Kahn.
»Um so schlimmer für sie!« sagte der Oberst. »Sie treffen sich selbst, wenn sie ihre Diener schlagen.«
Aber Herr Kahn wollte das letzte Wort behalten. Er wandte sich zu Rougon um.
»Wenn ein Mann wie Sie stürzt, trauert das ganze Volk!«
Die Clique bestätigte: »Ja, ja, dann trauert das ganze Volk!«
Bei diesen plumpen Lobsprüchen hob Rougon den Kopf. Seine grauen Backen bekamen einen roten Schimmer, sein ganzes Gesicht lächelte verhalten vor Befriedigung. Er war so eitel auf seine Macht, wie es eine Frau auf ihre Anmut ist; und er liebte es, wenn die Schmeicheleien seine breite Brust, die so stark war, daß kein Pflasterstein sie zerschmettern konnte, aus nächster Nähe trafen. Unterdessen wurde es offensichtlich, daß seine Freunde einander im Wege waren; sie belauerten sich mit Blicken, versuchten sich gegenseitig zu verdrängen, wollten nicht deutlich reden. Jetzt, da der große Mann gezähmt zu sein schien, mußte man sich beeilen, ihm ein Versprechen zu entreißen. Und als erster faßte der Oberst einen Entschluß. Er führte Rougon, der, ein Schubfach unter dem Arm, widerstandslos mitging, in eine Fensternische.
»Haben Sie an mich gedacht?« fragte er ihn im Flüsterton, mit einem liebenswürdigen Lächeln.
»Gewiß, Ihre Ernennung zum Kommandeur der Ehrenlegion ist mir noch vor vier Tagen versprochen worden. Nur werden Sie wohl einsehen, daß es mir heute unmöglich ist, irgend etwas zuzusichern ... Ich fürchte, ich gestehe es Ihnen, meine Freunde werden die Folgen davon, daß ich in Ungnade gefallen bin, zu spüren bekommen.«
Die Lippen des Obersten zitterten vor Erregung. Er stammelte, man müsse kämpfen, er selber werde kämpfen. Dann drehte er sich plötzlich um und rief: »Auguste!«
Der Schlingel kauerte auf allen vieren unter dem Schreibtisch und war damit beschäftigt, die Aufschriften auf den Aktendeckeln zu lesen, was ihm ermöglichte, leuchtende Blicke auf Frau Bouchards Stiefelchen zu werfen. Er kam rasch herbei.
»Da ist mein munterer Sprößling«, sagte der Oberst leise. »Sie wissen, daß ich dieses Wurm da eines Tages irgendwo unterbringen muß. Ich rechne dabei auf Sie. Ich schwanke noch zwischen der Gerichts und der Verwaltungslaufbahn ... Gib deinem guten Freund die Hand, Auguste, damit er sich deiner erinnert.«
Inzwischen hatte sich Frau Bouchard, die vor Ungeduld an ihrem Handschuh knabberte, erhoben und das Fenster zur Linken erreicht; Herrn d'Escorailles hatte sie mit einem Blick befohlen, ihr zu folgen. Ihr Gatte war bereits dort; die Ellbogen auf die Schutzstange gestützt, genoß er die Aussicht. Ihm gegenüber zitterte das Laub der großen Kastanienbäume des Tuileriengartens in der heißen Sonne, während von der Pont Royal bis zur Pont de la Concorde die Seine ihr blaues, ganz mit Lichtflittern übersätes Wasser wälzte.
Auf einmal wandte sich Frau Bouchard um und rief: »Oh, Herr Rougon, sehen Sie doch nur!«
Und als sich Rougon beeilte, den Oberst zu verlassen, um ihrem Wunsch zu entsprechen, zog sich Du Poizat, der der jungen Frau nachgegangen war, diskret zurück und gesellte sich wieder zu Herrn Kahn, der am Mittelfenster stand.
»Sehen Sie doch, der mit Ziegeln beladene Kahn da wäre beinahe gekentert«, plapperte Frau Bouchard.
Rougon blieb bereitwillig dort in der Sonne stehen, bis Herr d'Escorailles, auf einen abermaligen Blick der jungen Frau hin, zu ihm sagte: »Herr Bouchard will um seine Entlassung einkommen. Wir haben ihn mitgebracht, damit Sie ihm Vernunft predigen.«
Darauf erklärte Herr Bouchard, daß ihn die Ungerechtigkeiten empörten.
»Ja, Herr Rougon, ich habe als Sekretär im Innenministerium angefangen, und ich habe es bis zum Bürovorsteher gebracht, ohne etwas der Begünstigung oder irgendwelchen Ränken zu verdanken ... Bürovorsteher bin ich seit dem Jahre siebenundvierzig. Nun gut! Inzwischen ist der Posten des Abteilungschefs schon fünfmal frei geworden, viermal während der Republik und einmal unter dem Kaiserreich, ohne daß der Minister an mich, der ich der Rangordnung nach Anspruch darauf habe, gedacht hätte ... Jetzt werden Sie das Versprechen, das Sie mir gegeben haben, nicht mehr einlösen können, und ich will lieber abgehen.«
Rougon mußte ihn beschwichtigen. Der Posten sei immerhin noch nicht an einen anderen vergeben; wenn er ihm auch diesmal entgehe, so sei das nur eine verpaßte Gelegenheit, eine Gelegenheit, die sich gewiß wieder einmal ergeben werde. Dann ergriff Rougon Frau Bouchards Hände und machte ihr auf eine väterliche Art Komplimente. Das Haus des Bürovorstehers war das erste gewesen, wo er nach seiner Ankunft in Paris empfangen worden war. Dort hatte er den Oberst getroffen, ein Geschwisterkind des Bürovorstehers. Später, als Herr Bouchard mit vierundfünfzig Jahren seinen Vater beerbte und ganz plötzlich von dem Wunsch gepackt wurde, sich zu verheiraten, hatte Rougon Frau Bouchard, geborene Adèle Desvignes, einer sehr wohlerzogenen jungen Dame aus einer angesehenen Familie in Rambouillet, als Trauzeuge gedient. Der Bürovorsteher hatte ein junges Mädchen aus der Provinz haben wollen, weil er auf Ehrbarkeit hielt. Adèle, blond, klein und bestrickend mit der ein wenig faden Naivität ihrer blauen Augen, war nach vier Ehejahren bei ihrem dritten Liebhaber angelangt.
»Nun, machen Sie sich keinen Kummer«, sagte Rougon, der noch immer ihre Handgelenke mit seinen großen Händen umklammert hielt, »Sie wissen genau, daß man alles tut, was Sie wünschen ... Jules wird Ihnen an einem der nächsten Tage berichten, wie die Dinge stehen.«
Und er nahm Herrn d'Escorailles beiseite und teilte ihm mit, daß er selber an diesem Morgen an dessen Vater geschrieben habe, um ihn zu beruhigen. Der junge Auditeur solle ruhig seine Stellung beibehalten. Die Familie d'Escorailles war eine der ältesten Familien in Plassans, wo sie allgemeine Verehrung genoß. Deshalb setzte Rougon, der früher in schiefgetretenen Schuhen an dem Palais des alten Marquis, des Vaters von Jules, vorbeigegangen war, seinen Stolz darein, den jungen Mann zu protegieren. Die Familie trieb noch immer einen frommen Kult mit Heinrich V.23, gleichzeitig aber ließ sie es zu, daß sich ihr Kind dem Kaiserreich verband. Das kam von den abscheulichen Zeiten.
Am Mittelfenster, das sie geöffnet hatten, um besser abgesondert zu sein, unterhielten sich Herr Kahn und Du Poizat und sahen dabei auf die fernen Dächer der Tuilerien hinaus, die in dem flimmernden Sonnenlicht bläulich schimmerten. Sie fühlten einander auf den Zahn, gaben abgerissene, von großen Pausen unterbrochene Worte von sich, Rougon sei zu heftig, er hätte sich nicht über die RodriguezAngelegenheit ärgern dürfen, die sich so leicht beilegen lasse. Dann murmelte Herr Kahn mit abwesendem Blick, als spräche er zu sich selber: »Man weiß, daß man fällt, aber man weiß nie, ob man wieder aufsteht.«
Du Poizat tat, als habe er nichts gehört. Und lange danach sagte er: »Oh, er ist ein sehr starker Kerl.«
Da drehte sich der Abgeordnete plötzlich um und sprach, den anderen fest ansehend, sehr schnell: »Unter uns gesagt, mir ist bange um ihn. Er spielt mit dem Feuer ... Gewiß, wir sind seine Freunde, und es ist nicht die Rede davon, ihn im Stich zu lassen. Ich lege nur Wert darauf, festzustellen, daß er bei dem allen sehr wenig an uns gedacht hat ... So habe ich zum Beispiel ungeheuer große und wichtige Dinge unter den Händen, die er mit seinem unüberlegten Vorgehen gefährdet hat. Er hätte kein Recht, es mir zu verübeln, wenn ich jetzt an eine andere Tür klopfte, nicht wahr? Denn schließlich erleide nicht ich allein Schaden, sondern auch die Bevölkerung.«
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