Rougon, bereits an die schlampige Dienerschaft des Hauses gewöhnt, ging hinauf. Im Treppenhaus kam er an einem baumlangen Diener mit dem Aussehen eines Banditen und einem langen schwarzen Bart vorbei, der ihn ruhig ansah, ohne ihm die Geländerseite freizugeben. Auf dem Treppenabsatz des ersten Stocks fand er sich dann allein drei offenen Türen gegenüber. Die zur Linken führte in Clorindes Zimmer. Er war so vorwitzig, einen langen Hals zu machen. Obwohl es bereits vier Uhr war, war das Zimmer noch nicht aufgeräumt; ein vor dem Bett aufgestellter Wandschirm verdeckte zur Hälfte die herunterhängenden Decken, und über den Wandschirm geworfen, trockneten die untenherum ganz mit Schmutz bespritzten Röcke vom Tage zuvor. Vor dem Fenster stand auf dem Fußboden die mit Seifenwasser gefüllte Waschschüssel, während die Katze des Hauses, ein grauer Kater, zusammengerollt auf einem Haufen Kleidungsstücke schlief.
Clorinde hielt sich meist im zweiten Stock auf, in jenem Raum, aus dem sie nacheinander ein Atelier, ein Rauchzimmer, ein Treibhaus, einen Sommersalon gemacht hatte. Je weiter Rougon hinaufstieg, um so stärker vernahm er Stimmenlärm, helles Gelächter, das Gepolter stürzender Möbelstücke. Und als er vor der Tür angelangt war, unterschied er schließlich, daß ein schwindsüchtiges Klavier den Lärm anführte, während eine Stimme sang. Er klopfte zweimal, ohne Antwort zu erhalten. Da entschloß er sich, einzutreten.
»Ah! Bravo, bravo! Da ist er ja!« rief Clorinde und klatschte in die Hände.
Er, der für gewöhnlich schwer aus der Fassung zu bringen war, blieb einen Augenblick lang staunend auf der Schwelle stehen. Vor dem alten Klavier, auf das er wütend einhieb, um ihm weniger dünne Töne zu entlocken, saß der Cavaliere Rusconi, der italienische Botschafter, ein schöner Mann, brünett und, wenn es ihm gerade paßte, ein ernsthafter Diplomat. In der Mitte des Raumes walzte der Abgeordnete La Rouquette mit einem Stuhl, dessen Rücklehne er zärtlich mit den Armen an sich drückte, so hingerissen von seinem Schwung, daß er das Parkett mit umgestürzten Sitzgelegenheiten bestreut hatte. Und im grellen Licht eines der Fenster stand, einem jungen Mann gegenüber, der sie mit Reißkohle auf eine Leinwand zeichnete, mitten auf einem Tisch Clorinde mit nackten Schenkeln, nackten Armen, nackter Brust, völlig nackt und mit gelassener Miene Modell als Jagdgöttin Diana. Auf einem Kanapee saßen drei tiefernste Herren, rauchten dicke Zigarren und betrachteten, die Beine übereinandergeschlagen, das junge Mädchen, ohne ein Wort zu sprechen.
»Lassen Sie, rühren Sie sich nicht«, rief der Cavaliere Rusconi Clorinde zu, die vom Tisch herunterspringen wollte. »Ich werde die Vorstellung übernehmen.« Und von Rougon begleitet, sagte er scherzend, als sie an Herrn La Rouquette vorbeigingen, der atemlos in einen Sessel gesunken war: »Herr La Rouquette, den Sie kennen. Ein künftiger Minister.«
Dann fuhr er, sich dem Maler nähernd, fort: »Herr Luigi Pozzo, mein Sekretär, Diplomat, Maler, Musiker und Verliebter.«
Die drei Herren auf dem Kanapee vergaß er. Doch als er sich umwandte, bemerkte er sie; und er gab seinen scherzenden Ton auf, verneigte sich in ihrer Richtung und murmelte dabei in formvollendetem Ton: »Herr Brambilla, Herr Staderino, Herr Viscardi, alle drei politische Flüchtlinge.«
Die drei Venetianer verbeugten sich, ohne ihre Zigarren aus der Hand zu legen. Der Cavaliere Rusconi kehrte gerade ans Klavier zurück, als Clorinde ihn heftig schalt und ihm vorwarf, er sei ein schlechter Zeremonienmeister. Und ihrerseits auf Rougon weisend, sagte sie einfach, aber mit einer besonderen, sehr schmeichelhaften Betonung: »Herr Eugène Rougon.«
Man verbeugte sich abermals. Rougon, der einen Augenblick lang irgendeinen unpassenden Scherz befürchtet hatte, war überrascht von dem plötzlichen Takt und der Würde dieses großen Mädchens, das da halbnackt in seinem Gazegewand stand. Er setzte sich und erkundigte sich nach dem Befinden der Gräfin Balbi, wie es seine Gepflogenheit war; er tat sogar bei jedem Besuch so, als gelte er der Mutter, was ihm schicklicher erschien.
»Ich hätte mich sehr gefreut, ihr persönlich meine Aufwartung machen zu dürfen«, fügte er hinzu, die Formel anwendend, die er in diesem Fall zu gebrauchen pflegte.
»Aber Mama ist ja hier«, sagte Clorinde, mit dem Ende ihres Bogens aus vergoldetem Holz auf eine Ecke des Raumes deutend.
Und die Gräfin war tatsächlich da; hinter Möbelstücken verborgen, lag sie in einem großen Sessel. Das löste allgemeines Erstaunen aus. Auch die drei politischen Flüchtlinge hatten offenbar nichts von ihrer Anwesenheit gewußt; sie standen auf und verbeugten sich. Rougon ging zu ihr und reichte ihr die Hand. Er blieb bei ihr stehen, und sie, immer noch ausgestreckt, antwortete einsilbig, mit jenem ständigen Lächeln, das sie niemals verließ, nicht einmal wenn sie litt. Dann versank sie wieder in ihre Schweigsamkeit, war zerstreut, blickte seitlich auf die Avenue hinaus, wo ein Strom von Wagen entlangrollte. Sie hatte sich zweifellos hierhergesetzt, um dem Verkehr zuzusehen. Rougon ließ sie allein.
Inzwischen suchte der Cavaliere Rusconi, der wieder am Klavier saß, leise die Tasten anschlagend und mit halber Stimme italienische Worte vor sich hin singend, nach einer Melodie. Herr La Rouquette fächelte sich mit seinem Taschentuch. Clorinde hatte sehr ernst ihre Pose wieder eingenommen. Und Rougon ging in der plötzlich entstandenen Stille gemächlich auf und ab und betrachtete die Wände. Der Raum war mit einem erstaunlichen Durcheinander von Gegenständen vollgestopft: allerlei Möbelstücke, ein Schreibtisch, eine Truhe, mehrere Tische – alles in die Mitte geschoben –, schufen ein Labyrinth enger Gänge; an einem Ende welkten, schief aneinandergelehnt, ausrangierte Treibhauspflanzen, deren herabhängende grüne Wedel ganz von Rost zerfressen waren; am anderen Ende aber lag ein großer Haufen trocken gewordenen Tons, zwischen dem man noch die zerbröckelten Arme und Beine einer Statue erkannte, an der sich Clorinde versucht hatte, als sie eines schönen Tages von der Laune gepackt worden war, Künstlerin zu werden. Der sehr ausgedehnte Raum bot in der Tat an freiem Raum nur einen kleinen Platz vor einem der Fenster, eine Art viereckiger Lücke, die man mit zwei Kanapees und drei nicht zueinander passenden Sesseln in einen kleinen Salon verwandelt hatte.
»Sie dürfen rauchen«, sagte Clorinde zu Rougon.
Er dankte, er rauche nie. Sie, ohne sich umzuwenden, rief: »Cavaliere, drehen Sie mir doch eine Zigarette. Tabak muß vor Ihnen auf dem Klavier stehen.«
Und während der Cavaliere die Zigarette drehte, trat wieder Schweigen ein. Rougon, ärgerlich darüber, all diese Leute hier zu finden, wollte gehen und seinen Hut holen. Er trat jedoch wieder vor Clorinde hin, den Kopf erhoben, fragte lächelnd: »Haben Sie mich nicht gebeten, vorbeizukommen, weil Sie mir etwas zeigen wollten?«
Sehr ernst, ganz mit dem Modellstehen beschäftigt, antwortete sie nicht sogleich. Er mußte nochmals fragen: »Was wollten Sie mir denn zeigen?«
»Mich«, sagte sie.
Sie sagte das in einem überlegenen Ton, ohne jede Geste, in ihrer Göttinnenpose auf dem Tisch stehend. Rougon, nun seinerseits sehr ernst, trat einen Schritt zurück, betrachtete sie lange. Und sie war wirklich prachtvoll mit ihrem reinen Profil, ihrem schlanken Hals, den eine abfallende Linie mit den Schultern verband. Vor allem besaß sie jene königliche Schönheit, die Schönheit der Büste. Ihre runden Arme und Beine schimmerten wie Marmor. Ein wenig gebogen dadurch, daß sie die linke Hüfte leicht vorgeschoben hatte, streckte sie die rechte Hand in die Luft und bot so den Blicken eine lange, sehr wirkungsvolle und geschmeidige, in der Taille eingebogene, am Schenkel ausgebogene Linie von der Achselhöhle bis zur Ferse. Mit der anderen Hand stützte sie sich in der ruhig kraftvollen Haltung der antiken Jagdgöttin auf ihren Bogen, unbekümmert um ihre Nacktheit, der Liebe der Männer nicht achtend, kalt, hoheitsvoll, unsterblich.
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