Da entschloss ich mich zu einem großen Wagnis. Ich wusste, dass Vater das während des Monats benötigte Geld im Mittelfach seines Schreibtisches aufbewahrte: Silber und kleines Geld in einer offenen Drahtkassette, die Goldfüchse aber in zwei netten kleinen weißen Beutelchen, auf die Fiete im Kreuzstich „zehn Mark“ und „zwanzig Mark“ gestickt hatte. Diese Schublade war zwar immer verschlossen, aber es gab soviel Schränke und Kommoden in unserem Haus, in denen Schlüssel steckten, dass ich überzeugt war, einer davon werde schon passen.
Morgens stand ich nun als allererster auf und schlich, während alles noch schlief, auf Socken durch die Wohnung, Schlüssel probierend. Schließlich passte zu meinem Unheil wirklich einer. Die Geldschublade lag offen vor mir, und in den beiden kleinen Geldsäckchen klingelte es angenehm. Nach langem Überlegen entschloss ich mich, ein Zehn- und ein Zwanzig-Mark-Stück zu nehmen. Ich glaubte, mein Vater werde den Verlust weniger leicht merken, wenn in jedem Beutel nur ein, als wenn in einem Beutel zwei Goldstücke fehlten. Trotzdem Hans Fötsch und ich fest ausgemacht hatten, noch aus Hamburg von der Anzahlung auf unsere Heuer Vater das Geld zurückzusenden, klopfte bei dieser Zwangsanleihe mein Herz doch sehr. Wohl war mir dabei nicht zumute, und stumm saß ich, mit gesenkten Augen, beim Kaffeetisch.
Noch auf meinem Schulweg gelang es mir, Hans Fötsch abzufangen und ihm zu sagen, dass mein Vorhaben gelungen sei. Da uns beiden noch längeres Verweilen unter so drückenden Umständen unmöglich schien, wurde die Flucht schon auf den nächsten Morgen festgesetzt.
An diesem Nachmittag hatten wir unendlich viel zu tun. Mit einer wahren Wonne warfen wir die Bücher aus unserer Schultasche und füllten sie mit Konserven und sehr wenig Wäsche. Schularbeiten wurden natürlich nicht mehr gemacht, wir hatten unsere Schiffe hinter uns verbrannt. Vom Bäcker holten wir Schrippen und vom Fleischer Leberwurst, dies schien uns der richtige Reiseproviant. Das Geld wurde zwischen uns so geteilt, dass Hans Fötsch das Zehn-Mark-Stück, ich aber den Zwanzigmärker bekam. Am späten Abend erst trennten wir uns, beide sehr erregt. Als Zeit unseres Treffens am nächsten Morgen war halb acht Uhr festgesetzt.
Ob ich in dieser Nacht viel geschlafen habe, weiß ich nicht mehr. Jedenfalls werden durch meine Träume Briggs, die mit geblähten weißen Segeln vorm Winde dahinflogen, gespukt haben.
An der Frühstückstafel am nächsten Morgen nahm ganz ungewohnt mein Vater teil, der sonst immer erst um zehn, halb elf Uhr frühstückte, da er, der größeren Ruhe wegen, meistens nachts bis gegen zwei, drei Uhr morgens arbeitete. Aber ich achtete nicht auf diese befremdliche Änderung seiner Gewohnheiten, wie ich nicht auf seine Blicke achtete. Ich war viel zu sehr mit meinen Plänen und Hoffnungen beschäftigt. Endlich war es so weit!
Kurz vor halb acht Uhr schnappte ich meine ungewohnt schwere Tasche und rannte auf die Straße vor Fötschens Haus. Ich musste fünf, ich musste zehn Minuten warten – meine Aufregung wurde immer fieberhafter. War etwas dazwischen gekommen oder war es nur die gewöhnliche Bummelei von Hans Fötsch –?
Dann kam er – aber wie ward mir, als ich ihn an der Hand seiner Mutter daherwandeln sah –?! Zur Salzsäule erstarrt blickte ich auf meinen blassen, verheulten Freund und das strenge Gesicht seiner Mutter, die ihn eher als Gefangenen mit sich schleppte, denn wie eine Mutter ihren Sohn führte! Nahe, ganz nahe gingen die beiden an mir vorüber. Hans wagte mich nicht anzusehen, seine Mutter aber bedachte mich mit einem vor Empörung sprühenden Blick und zischte: „Du Bube du!“
Dann waren sie an mir vorüber, sie schritten die Luitpoldstraße hinab und verschwanden um die Ecke meinen Blicken. Ich war völlig zerschmettert. Also war unser Vorhaben doch verraten, und ich war dazu verurteilt, weiter die verhasste Schulbank zu drücken, Spott und Kränkungen zu ertragen! Ade du freies Schiffsjungendasein! Ade fröhliche Fahrten vor dem Wind, während die Delphine um unser Schiff spielen! Ade ihr sonnigen Palmeninseln der Südsee!
Aber was sollte ich jetzt tun –? Was in aller Welt sollte ich jetzt tun –?! Ich konnte doch nicht wieder hinauf zu uns, den Inhalt meiner Schultasche wechseln und einfach in die Penne gehen? Ich hatte ja nicht einmal Schularbeiten gemacht!
Ich stand noch völlig unentschlossen, keines rechten Gedankens fähig, als mein Vater, der mich so lange hinter einer Litfasssäule hervor beobachtet hatte, mich an der Schulter fasste. „Also ist es wirklich wahr“, sagte er tieftraurig, „was mir Frau Fötsch erzählt hat, dass ihr ausreißen wolltet? Und mit gestohlenem Geld –! Komm, Hans, du musst jetzt deiner Mutter und mir erzählen, wie unser Junge zu etwas Derartigem kommen konnte. Du hast ja einen Diebstahl begangen, einen schweren Diebstahl sogar, du kennst doch die Unterscheidungen! Und Hans Fötsch hast du auch verführt!“
Wir waren oben. Mit angstvollem Gesicht hatte meine Mutter mich erwartet. Jetzt ging sie uns voran in meines Vaters Arbeitszimmer, die Tür schloss sich hinter uns, und ich stand als Angeklagter vor meinen Eltern. Jetzt half kein Lügen und Leugnen mehr, es gab zu viel Beweismittel gegen mich, denn Hans Fötsch hatte alles gestanden!
Am Abend zuvor war seiner Mutter zufällig die Schultasche in die Hand geraten, grade weil sie Hans an einem ungewohnten Platz aufbewahrt hatte, ihre Schwere hatte sie stutzig gemacht, und von da bis zu einem Geständnis war nur ein kurzer Schritt gewesen. Leider aber hatte sich Hans nicht als getreuer Freund erwiesen, sondern hatte sich völlig als den Verführten hingestellt, auch meinen Diebstahl gebührend angeprangert, während er seine eigenen kleinen Mausereien mit Stillschweigen übergangen hatte. Noch in der Nacht waren Fötschens zu meinen Eltern geeilt und hatten lebhafte Klage über mich geführt. Ihrem Sohn war jedenfalls aller weitere Verkehr mit mir untersagt worden.
All dies hatte meine Eltern natürlich sehr schwer gekränkt. Meinen Vater betrübte am meisten der Diebstahl, den er grade als Richter schwerer nahm als jeder unjuristische Vater. Mutter verstand nicht, dass mir bei all ihrer liebevollen Fürsorge die Verhältnisse im Elternhaus so unerträglich erschienen waren. Besonders mein Mangel an Vertrauen hatte sie tief verletzt.
Leider habe ich von Kind auf nie die Gabe besessen, mich aussprechen zu können. Wie ich keinem, nicht einmal dem Freunde Hans Fötsch, etwas Näheres über meine Schulmiseren hatte erzählen können, so war es mir auch in dieser Stunde notwendiger Geständnisse nicht gegeben, meinen Eltern mehr als ein paar kümmerliche Fetzen von meinen Drangsalen zu berichten. Was sie da hörten, schien ihnen ganz unbefriedigend, keinesfalls ausreichend zur Begründung eines so wahnsinnigen Schrittes.
Immerhin hielt es mein Vater, der wohl wusste, dass ein Untersuchungsrichter Material nicht nur gegen, sondern auch für den Beschuldigten zusammenzutragen hat, es für seine Pflicht, sich erst einmal in der Schule zu erkundigen, was eigentlich mit mir los sei. Bis dahin wurde ich in meinem Zimmer bei hinreichend Schularbeiten eingeschlossen.
Mit inniger Befriedigung muss Professor Olearius den betrübten Bericht meines Vaters angehört haben. Dahin kamen also die Burschen, die sich weigerten, lateinische Verben zu lernen! Schiffsjunge – wahrhaftig! Und er gab meinem armen Vater die schwärzeste Schilderung von meinen Neigungen, Charakter, Fähigkeiten.
„Ich muss Ihnen empfehlen, mein sehr verehrter Herr Kammergerichtsrat“, schloss Professor Olearius triumphierend, „Ihren Sohn sofort vom Gymnasium abzumelden. Schon damit er einem consilium abeundi entgeht, denn ich fühle mich verpflichtet, das mir von Ihnen Mitgeteilte dem Lehrerkollegium zu unterbreiten. Für die weitere Bildung Ihres Sohnes halte ich nun freilich eine Volksschule für das höchst Erreichbare, vielleicht wäre noch richtiger eine Anstalt für geistig zurückgebliebene Kinder. Dieses ewige Heulen, diese Unfähigkeit, auch die einfachsten lateinischen Formen zu erlernen, scheinen mir auf einen leichten Schwachsinn zu deuten.“
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