Cecilia nahm einen großen Schluck ihres Cocktails, als wolle sie sich Mut antrinken, und …
„Meine Mutter hat in ihrer großzügigen Fürsorge und Liebe für mich beschlossen, daß ich endlich meine Jungfernschaft verlieren solle und deshalb meine Begegnung mit Ihnen arrangiert. Und ich habe zugestimmt, weil ich neugierig war, wie das ablaufen und wem ich wohl begegnen würde. Die optische und eine erste Manierenprüfung haben Sie bestanden, Michael, und jetzt dürfen Sie mich küssen. Und danach werde ich entscheiden, ob Sie mich im Laufe dieser Nacht entjungfern und darüber hinaus mit mir schlafen dürfen.”
Michael blieb der Verstand stehen. Er hatte mit allem gerechnet, nur damit nicht. Dieses Mädchen war alles andere als schüchtern, und ein dummes Ding war es auch nicht. Cecilia wußte genau was sie wollte. Das Kommando hatte nicht er, das hatte sie.
Michael sah sie einen Moment durchdringend an, ehe er sich vorbeugte, sie sich ihm zubeugte, sie beide ihre Köpfe gegensätzlich leicht schräglegten, die Augen schlossen und ein erstes Mal ihre Lippen sich berührten. Ein Wärmestrahl durchfuhr seinen Körper, ehe er seinen Mund öffnete und seine Zunge nach ihrer forschte, sie ihre lechzend in seinen Mund vorschob und beide miteinander im Tanz verschmolzen. Ohne sich sonst zu berühren, blieben sie so eine gefühlte Ewigkeit miteinander verbunden. Als sie sich schließlich lösten, hatte Cecilia leicht glasige Augen und mußte sich einen Moment lang „sortieren”. Michael war seinerseits leicht benommen und registrierte deutlich, daß Monsieur Bouchon einsatzbereit war.
„Laß uns gehen”, flüsterte Cecilia ihm zu. „Ich möchte auf der Party tanzen, ehe wir uns …, Du weißt schon.”
„Aber erst küssen wir uns noch einmal … auf einem …”, forderte Michael wie ein Teenager, der weiter üben wollte, doch konnte er im Augenblick nichts weiter sagen, denn Cecilia hatte ihm bereits den Mund verschlossen.
*
Es kostete Alexander seine ganze Kraft, sich zu beherrschen. Berenice machte ihn wahnsinnig. Soweit er überhaupt noch denken konnte, empfand er sie als die wohl schamloseste Person, die ihm je untergekommen war. Untergekommen? Sie war über ihn gekommen.
Es erschien ihm bereits wie eine Ewigkeit, daß sie an ihm saugte und leckte. Er wollte sie schon auffordern, das „Bonboneinsammeln” zu beenden, ehe aus den Nachbarlogen spitze „Anfragen” kommen würden, ob man bei ihnen mitmachen dürfe, aber gleichzeitig fühlte er sich so stimuliert, wie selten zuvor. Es machte vielleicht auch der Reiz des Verbotenen, es in von großer Kunst erfüllter Umgebung zu treiben. Aber große Kunst geschah auch an ihm. Berenice genoß es nicht nur, sie gab ihm ein wundervolles Gefühl, begehrt zu sein.
Er schluckte, sog den Atem tief durch die Nase ein, als er es heranrauschen fühlte, zu zucken begann, sich die rechte Hand auf den eigenen Mund preßte, damit sein Aufstöhnen gedämpft würde, ehe Berenice alles empfing, was er zu geben hatte. Er hielt die Augen geschlossen, atmete befreit auf. So sehr er es genossen hatte, so froh war er, daß es vorbei war. Noch nie hatte eine begabte Frau derart bei ihm abgesahnt. Würde er es seinen Freunden berichten, sie glaubten es ihm vermutlich nicht.
Berenice bewegte sich, wie suchend, zu ihrem Platz zurück.
„Ist es denn die Möglichkeit, wie viele Bonbons allein in einer Tüte sich befinden, und ich ungeschicktes Dummerchen lasse alle fallen. Paß auf, mein Lieber, wo Du hintrittst, sonst dürfen wir noch die Reinigung für in den Teppich eingetretene Süßigkeiten bezahlen. Nicht wahr, Du paßt doch auf, ja?”
„Aber sicher, Liebe, ich werde darauf achten.” Alexander amüsierte sich über ihre Unverfrorenheit.
Berenice richtete kurz ihre Kleidung und setzte sich wieder hin. Der Prinz selbst war mental zurück und nahm Tschaikowskys schöne Musik wieder wahr. Der „Großfürst” verschwand in seinem etwas engen, aber warmen Quartier. Hosenstall zu.
„Hast Du Töne”, zeterte Madame de Treville verhalten. „Sie hat ihn vor unser aller Augen gemolken. Man glaubt es ja nicht.” Damit setzte sie das Opernglas ab und wandte sich flüsternd ihrer Freundin zu, die vor lauter Neid ganz schmale Augen bekommen hatte.
„Das hätte ich von Berenice nicht gedacht.”
„Natürlich haben wir das von ihr nicht gedacht, obwohl wir stillschweigend alle genau das von ihr gedacht haben, so wie sie vernachlässigt wird. Daß sie aber die Chuzpe aufbringt, gleich hier ihre Lust auszuleben, das ist ein starkes Stück. Und gib zu, Du hättest es auch gern getan. Trau Dich, es abzustreiten.”
„Natürlich hätte ich, aber der schöne Bursche sitzt nun mal drüben bei Berenice und nicht bei uns zwei unbeachteten Chaisen. Verdammt, sie ist schon ein Satansweib.”
„Aber Dagmar, Süße, was sind denn das für Reden?”
„Ach hör auf! Dir läuft der Sabber doch auch schon aus den Mundwinkeln!”
„Mir läuft der Saft ganz woanders, Schätzchen, und achte mal lieber auf Dich selbst, nicht wahr.”
„Und wir wären ganz zufrieden, wenn die Damen nebenan dazu übergehen könnten, wieder auf die schöne Vorstellung zu achten, statt erotische Volksreden zu halten”, ertönte eine ungehaltene Männerstimme aus der Loge rechts von ihnen.
„Ups!”
„Meine Güte auch”, und das unterstrichen die beiden Vernachlässigten mit einem leisen Kichern.
Alexander bemerkte erst etwas später, daß ihn sein rechter Zeigefinger schmerzte. In der nächsten Pause betrachtete er ihn. Er hatte sich im Höhepunkt selbst quer gebissen.
„Oh!”
*
Cecilia war mit Michael auf der Party ihres Cousins York Heygenrath sofort aufgefallen. Niemand konnte sich erinnern, sie je in männlicher Begleitung gesehen zu haben, wenn man von ihrem Vater und ihren Brüdern einmal absah. Entsprechend wurde sie bestaunt und Michael eingehend gemustert.
York feierte seinen 25. Geburtstag und zugleich sein bestandenes Physikum. Er war Medizinstudent. Ein großer, gutgewachsener und blendend aussehender Mensch, braungebrannt, mit streng, ohne Scheitel zurückgekämmten goldblonden Haaren. Für sein Alter eher ungewöhnlich, trug er einen ebenso goldblonden Schnurrbart.
Er hatte die Nichte seiner Mutter sehr herzlich mit zwei Wangenküssen begrüßt, sich artig für das mitgebrachte Buchgeschenk bedankt und mit nur kurz aufblitzendem Staunen, dann aber sehr freundlich Michael willkommen geheißen. Der entschuldigte sich ein wenig verlegen, ohne Präsent gekommen zu sein, wurde aber formvollendet beruhigt, daß seine Anwesenheit Geschenk genug sei. York fragte ihn sogleich, ob er Lateinamerikanisch tanzen könne, was Michael mit einem kessen Lächeln bestätigte. Das sei gut, denn gleich gehe das Tanzen los, und als erstes wäre Lambada aufs Parkett zu legen.
Cecilia wollte erst abwehren, aber Michael ließ es nicht zu, sie solle einfach locker mitmachen, er führe sie schon. Im Obergeschoß des Hauses war ein großer Salon bis auf Sitzmöbel am Rande ausgeräumt worden und als York das Signal für die Musik gab, legten zehn Paare, die sich aufgestellt hatten, schwungvoll los. Die meisten Mädchen trugen kurze Röcke und waren mit knappen, bunten Oberteilen bauchfrei bekleidet. Sie waren allesamt gertenschlank und sahen toll aus. Ihre Tanzpartner waren durch die Bank durchtrainierte junge Männer in körperbetonter Kleidung.
Michael fiel sofort aus dem Rahmen, denn er legte seine Oberbekleidung ab und tanzte als Einziger mit nacktem Oberkörper. Cecilia wurde rot, aber es gefiel ihr. Sie bekam einen weiteren optischen Vorschuß auf das, was sie nach der Party erwartete, denn sie hatte sich längst entschlossen, mit Michael die Nacht zu verbringen − und er offenbar auch, Auftrag ihrer Mutter hin oder her, denn bei dem körperengen Tanzen bemerkte sie schnell, wie erregt er war, sie zu spüren. Die Musik packte sie beide und bald tanzten sie in der Mitte der sich lasziv miteinander bewegenden Körper. Cecilia verlor alle Scheu, verlor alle Angst, sie könnte vielleicht nicht mithalten. Michael führte sie so mitreißend, daß sie in einen innerlichen Schwebezustand geriet. Für sie war es bereits Sex, was sie mit ihm erlebte, was sie fühlte. Und so nah bei ihm, sein schönes Gesicht vor sich, seinen herrlichen Oberkörper, seinen Schoß, der sich im Rhythmus der Musik an ihrem rieb, seine Erektion − in Wellen durchströmte sie das wachsende Verlangen mit ihm allein zu sein, ganz allein, sich ihm hinzugeben, seine Haut, seine Wärme, seine erotische Hitze zu spüren und seinen angenehmen Körperduft in sich aufzunehmen, sich mit ihm zu vermischen. Sie konnte nicht mehr verstehen, warum sie als erste Reaktion auf den Vorschlag ihrer Mutter ungehalten, ja böse reagiert hatte. Nun war sie dankbar, daß sie die mit Siebzehn gemachte, schlechte, ja böse Erfahrung hinter sich zu lassen bereit war. Ihre Neugier und ihr Wille, endlich ein gerade auch erotisch erfülltes weibliches Leben zu leben, hatten gesiegt.
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