„Dann auf zum Crêpes Stand! Du kannst dir ja etwas Herzhaftes besorgen.“
„Nein! Ich esse sehr gerne Crêpes!“, rief Philipp theatralisch und rollte die Augen.
Amelie musste lachen. Mit den Crêpes in der Hand schlenderten sie weiter über den Weihnachtsmarkt.
„In diesem Jahr gibt es keine neuen Stände“, stellte Philipp plötzlich fest. „Die Geschenkbuden werden immer weniger, dafür haben Karussells und Imbissstände Hochkonjunktur. Nicht zu vergessen die Getränkestände mit Glühwein und Bier.“
„Genau daran habe ich eben auch gedacht. Vor Jahren war alles noch ganz anders.“
Philipp warf ihr einen Blick zu und lachte los.
„Wir reden wie zwei Rentner! Meine Großeltern lobten auch immer die gute alte Zeit, in der alles so anders und besser war.“
„Dann bin ich eben altmodisch, denn ich meine, dass vor Jahren die Weihnachtsmärkte viel schöner waren.“
Amelie blieb vor dem Stand mit den Weihnachtskugeln stehen.
„Wie gefällt dir diese Kugel?“
„Welche?“
„Hinten an der Wand hängt eine mit einem kleinen Christbaum drin. Siehst du sie?“
Philipp sah sich aufmerksam um, konnte die Kugel aber nicht entdecken. Ungeduldig wies Amelie in die angegebene Richtung.
Philipp ging in die Knie, um mit ihr auf gleicher Blickhöhe zu sein.
„Die rosafarbene?“
„Ja. Ich glaube, ich lasse sie mir zurücklegen.“
„Das Ding sieht nicht billig aus“, raunte Philipp ihr zu.
„Ich weiß, aber ich möchte sie unbedingt haben.“
Amelie wartete, bis die Verkäuferin bedient hatte.
„Ich möchte sie haben, die Kugel mit dem Bäumchen. Erinnern Sie sich?“
„Klar! Wie abgemacht?“
Amelie nickte dankbar. „Ja, wie abgemacht. Ich komme am letzten Tag gleich nach der Schule.“
Als sie sich abwandte, lief Philipp hinter ihr her.
„Hey? Was war denn das für eine Vorstellung? Kennst du die Frau?“
„Du bist sehr neugierig, nicht wahr?“
Philipp zuckte die Schultern. „Stimmt! Man muss alles wissen, finde ich.“
„Muss man das wirklich? Manchmal bin ich sogar froh, dass ich nicht alles weiß.“
Philipp erwiderte nichts und führte sie an einen Stand mit gebrannten Mandeln.
„Magst du welche, oder hast du genug Süßes gehabt?“
„Ich sterbe für Mandeln“, verriet ihm Amelie lächelnd. „Aber jetzt bin ich dran.“
Ehe Philipp es verhindern konnte, hatte sie eine Tüte genommen und bezahlt.
„Sollten wir uns nicht ein wenig aufwärmen? Wir könnten in ein Café gehen, und etwas Warmes trinken. Ich bin reichlich durchfroren.“
„Ach, Gott, Philipp! Du musst ja wirklich Eisbeine haben. Wie lange stehst du schon auf dem Markt?“
„Vier Stunden. Mein Dienst dauert von zwei bis sechs. Dreimal wöchentlich und samstags.“
„Dann sollten wir wirklich in ein Café gehen. Außerdem ist mir auch ziemlich kalt. Ich fürchte, meine Freundin hat Recht. Es sieht nach Schnee aus.“
„Jetzt ist mir wohler!“
Philipp streckte seine Beine aus und lehnte sich zufrieden zurück. Ein kräftiger Schluck Glühwein hatte sein Innenleben erwärmt.
Diesmal hatte auch Amelie das heiße Getränk einem Glas Mineralwasser vorgezogen, und ihre Wangen sahen ganz rosig aus. Philipp zwinkerte ihr vergnügt zu.
„Verstehst du jetzt, weshalb die Trinkbuden Hochkonjunktur haben?“
„Es ist aber auch wirklich kalt geworden. Bestimmt bekommen wir Schnee!“
„Herrlich! White Christmas!“
„Meinst du das ehrlich, oder machst du wieder deine Späße?“
Philipps Augen blitzten vergnügt.
„Ich mag weiße Weihnachten. Mit Fußspuren im Schnee, Schlittenfahrt und Glockengebimmel. Zwei Pferde ziehen die Kutsche, in der der Nikolaus und das Christkind...“
Weiter kam er nicht, denn Amelie sprang empört auf.
„Also doch! Zum Narren halten kann ich mich selbst.“
Sie nahm ihre Handtasche und suchte nach ihrer Geldbörse. Philipp hielt schnell ihre Hand fest.
„Es tut mir leid“, meinte er zerknirscht. „Du musst das nicht persönlich nehmen, Amelie. Ich bin manchmal albern, aber das ist reinster Selbstschutz. Ich will nichts mehr tierisch ernst nehmen im Leben. Es geschehen doch genug schreckliche Dinge. Denk doch nur an die Anschläge von Paris oder die auf Charlie Hebdo.“
Seine nachtschwarzen Augen sahen sie so traurig an, dass Amelie unwillkürlich fröstelte. Oder war es die Berührung seiner Hand, die sie schaudern ließ? Sekundenlang sahen sie sich tief in die Augen.
Als Philipp sie anlächelte, senkte Amelie den Blick.
„Fangen wir noch einmal an", hörte sie ihn leise sagen.
Amelie sah auf seine Hand, die noch immer warm und fest auf ihrer lag. Seine Berührung war sehr angenehm.
„Willst du mich etwa wieder ärgern?“
„Nein, natürlich nicht. Ich will dich bestimmt nicht ärgern. Amelie, denn... äh...“ Philipp machte eine Pause und holte tief Luft. „... denn du gefällst mir, sehr sogar...“
Nachdem er den Satz ausgesprochen hatte, wagte Amelie erst recht nicht, den Kopf zu heben. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie, wie er nervös mit der linken Hand nach seinem Glas griff und einen Schluck daraus nahm. Schließlich räusperte er sich.
„Hast du mich eigentlich verstanden?“
„Ja“, flüsterte Amelie.
„Dann ist es gut.“
Philipp lehnte sich wieder zurück, ohne ihre Hand loszulassen. Erst nach geraumer Weile sprach er weiter.
„Ich hoffe, du bist mir nicht böse, dass ich das gesagt habe, aber es stimmt nun mal. Ich finde dich unheimlich nett, und...“ Er schluckte seine Worte herunter, wollte von der Perfektion ihres Körpers reden, von den süßen Brüsten, dem blonden Schamhaardreieck. Aber sie durfte nicht erfahren, dass er sie heimlich beobachtet hatte. „Ich würde mich sehr freuen, wenn... wir... Freunde sein könnten.“
Amelie schloss die Augen und schmunzelte. Seine Worte taten so gut! Alle anderen Jungs wollten nur Sex mit ihr, aber Philipp wünschte sich eine Freundschaft. Am liebsten hätte sie ihm noch länger zugehört, aber sie musste jetzt etwas sagen, denn seine Verlegenheit wuchs von Sekunde zu Sekunde.
„Ich mag dich auch, Philipp“, gestand sie ihm leise.
Mit einem Seufzer ließ Philipp ihre Hand los und legte einen Arm um ihre Schultern.
„Auf welche Schule gehst du eigentlich?“, erkundigte er sich.
„Ich gehe ins Geschwister-Scholl-Gymnasium — und du?“
„Ins Max-Born-Gymnasium. Sehr weit sind unsere Schulen nicht voneinander entfernt.“
„Nein, drei Straßen nur. Sonderbar, dass ich dich noch nie gesehen habe.“
„Seit zwei Jahren arbeite ich nachmittags. Abends muss ich meine Schularbeiten machen, und dann ist der Tag auch schon vorbei.“
„Ich bin auch viel zu Hause. Meine Tante ist ziemlich streng. Ab und zu bin ich bei meiner Freundin, aber das ist auch schon alles, was ich unternehme. Hast du noch Geschwister?“
Philipp brummte. „Nein, das war schlecht möglich. Meine Eltern ließen sich kurz nach meiner Geburt scheiden. Ich wohne mit meiner Mutter zusammen. Von meinem Vater höre ich nur zu Weihnachten etwas.“
„Mein Vater ist bei der Bundeswehr und ist ständig bei Auslandseinsätzen. Er kümmert sich nur wenig um mich. Sein Job ist ihm wohl wichtiger.“
Philipp bemerkte den bitteren Unterton in ihrer Stimme und verstummte. Zu gern hätte er sich nach ihrer Mutter erkundigt, aber er wollte nicht schon wieder zu neugierig erscheinen. Amelie sprach nach einer Weile von selbst weiter.
„Meine Mutter ist schon über zehn Jahre tot. Deshalb lebe ich bei meiner Tante. Sie ist die Schwester meines Vaters.“
„Jetzt verstehe ich. Ich habe mich schon gefragt, weshalb du bei ihr lebst.“
„Wo soll ich denn sonst hin? Mein Vater ist mit sich selbst beschäftigt, und andere Verwandte gibt es nicht. Meine Großeltern habe ich nie gekannt.“
Читать дальше