Amelie strahlte ihn aus ihren dunklen Augen an. „Nun sag bloß, du machst hier Gymnastik!“
„Aber sicher! Was hast du denn gedacht?“
Philipp streckte seine Hände vor. „Wieder sauber. Was meinst du, sollen wir noch irgendwo etwas trinken? Mir ist ziemlich kalt.“
„Und mir ist ziemlich warm“, verriet ihm Amelie schmunzelnd. „Ich lade dich ein. Immerhin hast du meine Vespa wieder flottgemacht."
„So war das nicht gedacht. Eigentlich wollte ich dich einladen.“
Amelie prustete los. „Wenn wir uns noch lange darüber streiten, wer hier wen einlädt, wird nichts mehr aus unserem Kneipenbesuch. Meine Tante ist ziemlich streng.“
„Okay! Wir vertagen die Verhandlung. Wo gibt es denn hier eine passable Kneipe?“
„Zwei Straßen weiter. Es ist eine nette Bar. Ab und zu gehen wir nach dem Kurs hin.“
Wenig später fuhren sie hintereinander die Straße entlang. In der Bar war um diese Zeit noch nicht viel los, sodass Philipp und Amelie sofort einen freien Tisch ergattern konnten.
Philipp bestellte sich einen Glühwein, während Amelie nach einer Abkühlung verlangte.
„Wie heißt du eigentlich?“, meinte Amelie plötzlich.
„Bin ich ein Volltrottel!“ Philipp schlug sich an die Stirn. „Normalerweise bin ich nicht so unhöflich, aber ich habe wirklich vergessen, mich dir vorzustellen.“
Er erhob sich lachend und machte eine tiefe Verbeugung. „Ich heiße Philipp Pienen, und gehe das letzte Jahr ins Gymnasium. Im Herbst möchte ich Medizin studieren.“
Amelie ging auf seinen Tonfall ein. „Und ich heiße Amelie Schachten und gehe ebenfalls ins Gymnasium.“
Philipp ließ sich wieder auf den Stuhl fallen.
„Habe ich das richtig verstanden? Du lebst bei deiner Tante?“
Im selben Augenblick bereute er seine neugierige Frage, denn Amelie' Gesicht verdüsterte sich.
„Ja“, erwiderte sie knapp. „Ich lebe seit fast zehn Jahren bei ihr.“
Hastig nahm sie einen Schluck Mineralwasser. Philipp hätte sich ohrfeigen können. Jetzt hatte er ihre schöne Stimmung verdorben! Krampfhaft versuchte er, die Unterhaltung fortzusetzen.
„Was hältst du von Karate?“
„Karate?“ Amelie sah ihn verständnislos an. „Wie kommst du denn darauf?“
„Nun, ich habe mich im Studio danach erkundigt. Aber der Kurs ist ziemlich teuer.“
„Ich weiß. Eigentlich hätte ich mir meinen Gymnastikkurs auch nicht leisen, aber mein Vater hat ihn mir zum Geburtstag geschenkt.“
„Wann hast du denn Geburtstag?"
Gespannt wartete er auf ihre Reaktion, und diesmal hatte er nicht ins Fettnäpfchen getreten.
„Im Oktober. Am neunzehnten, um es genau zu sagen.“
„Dann haben wir beide an dem Tag ein Fest“, erwiderte Philipp strahlend. „Ich habe Namenstag und du Geburtstag. Der neunzehnte Oktober ist der Namenstag von Philipp.“
Amelie stimmte in sein Lachen ein.
„Das ist wirklich komisch!“
„Komisch? Das sollte dich eher nachdenklich stimmen, Amelie“, begann er mit todernstem Gesicht. „Denk doch mal nach! Bestimmt war es kein Zufall, dass wir uns getroffen haben.“
Amelie kniff die Augen zusammen. „Sag mal, spinnst du?“
Philipp lachte. „Nein, keine Sorge. Ich mache manchmal dumme Scherze, weißt du. Ich mag es, wenn die Leute lachen. Es wird viel zu wenig gelacht. Die meisten nehmen alles so tierisch ernst, dabei kann man doch so viel Spaß haben."
Amelie sah ihn verwirrt an. So richtig klug wurde sie nicht aus ihm, aber seine Art gefiel ihr. Allein wie er ihre Tante zu dem tollen Weihnachtsbaum überredet hatte!
„Ich bin froh, dass Tante Charlotte den Baum genommen hat", meinte sie.
Jetzt war es an Philipp, sie verwirrt anzusehen. „Du machst aber Gedankensprünge!“
„Siehst du, Philipp, so hat jeder seine Eigenarten. Ich mache öfter solche Sprünge, und du machst deine Späße.“
„Ich stelle fest, dass es sehr interessant ist, sich mit dir zu unterhalten, Amelie.“
„Danke für die Blumen! Leider wird nicht mehr viel aus einer Unterhaltung, denn ich muss jetzt gehen. Du weißt ja: meine Tante.“
Amelie griff in ihre Tasche, doch Philipp kam ihr zuvor.
„Bitte, lass mich bezahlen.“
„Also gut, wenn du unbedingt willst.“
„Ja, und ich will noch mehr. Sehen wir uns wieder?“
Amelie wurde verlegen und beugte sich noch tiefer über ihre Sporttasche. Trotzdem sah Philipp die leichte Röte, die ihr Gesicht überzog.
„Von mir aus. Wir könnten uns vielleicht nach der Schule treffen“, schlug Amelie leise vor.
„Das geht leider nicht. Ich muss doch Weihnachtsbäume verkaufen. Vor sechs Uhr abends kann ich nicht.“
Amelie hob den Kopf. „Dann komme ich morgen auf den Weihnachtsmarkt“, verkündete sie zu seinem Erstaunen. „Wir könnten anschließend noch ein wenig bummeln, ja?“
„Super! Ich freue mich sehr. Ab sechs Uhr habe ich frei. Dann bleiben uns noch drei Stunden. Außer meinem Stand habe ich noch nicht viel vom Weihnachtsmarkt mitbekommen.“
„Also abgemacht! Ich hole dich kurz vor sechs ab.“
Auf der Straße streckte sie ihm lächelnd die Hand entgegen.
„Bis morgen, Philipp! Und nochmals vielen Dank!“
Erst als sie um die Ecke verschwunden war, ging Philipp zu seinem alten Auto.
Amelie hatte ihre Vespa zu Hause gelassen. Tief in Gedanken versunken schlenderte sie in Richtung Marktplatz, wo die vielen kleinen Holzbuden für den Weihnachtsmarkt aufgebaut worden waren. Die engen Geschäftsstraßen waren hell erleuchtet.
Unzählige Glühbirnen, zu Sternen, Kerzen oder als Lichterkette angeordnet, verbreiteten ein warmes Licht. Auch die Schaufenster waren weihnachtlich dekoriert und zogen die Kunden wie magisch an. Immer wieder blieb Amelie stehen, um die verschiedenen Auslagen zu betrachten.
Sie liebte die Adventszeit, nur vor Weihnachten selbst fürchtete sie sich. Heiligabend und der erste Weihnachtstag führten ihr immer wieder vor Augen, wie einsam sie in Wirklichkeit war, denn außer ihrer Tante und ihrem Vater hatte sie keine Verwandten.
Ihre Mutter war schon vor Jahren gestorben, und ihren Vater, der bei der Bundeswehr beschäftigt war und meistens im Ausland aufhielt, bekam sie nur noch selten zu Gesicht.
In den letzten Jahren hatte sich der Verdacht erhärtet, dass er die Feiertage freiwillig bei einem Auslandseinsatz verbrachte. Bestimmt mochte er Weihnachten nicht! Sie selbst musste an den Feiertagen immer an ihre Mutter denken.
Das letzte Fest, das sie gemeinsam erlebt hatten, war traumhaft gewesen. Ihre Mutter hatte eine riesige Tanne geschmückt und im Wohnzimmer aufgestellt. Jedes Zimmer, auch die Diele war festlich dekoriert gewesen, und Amelie glaubte noch heute, den Duft der Plätzchen zu riechen, der durch das ganze Haus gezogen war.
Schon in der Adventszeit hatte sie mit ihrer Mutter, die immer lustige Geschichten erzählt hatte, stundenlang in der Küche gesessen und gebacken oder gebastelt. Das letzte Weihnachtsfest würde für immer in ihrem Gedächtnis haften bleiben, jede Kleinigkeit, jede winzige Begebenheit war ihr gegenwärtig. Schon am Heiligabend hatte sie das Wohnzimmer nicht mehr betreten dürfen.
„Das Christkind ist da“, hatte ihre Mutter ihr erklärt. „Wenn du neugierig bist, wird es böse und nimmt alle Geschenke wieder mit."
Amelie hatte mit klopfendem Herzen zugehört und ihre Ungeduld bezähmt. Nein, das Christkind durfte man nicht ärgern! Sie war in ihr Zimmer gegangen und hatte mühsam die Geschenke eingepackt, die sie für die Eltern gebastelt hatte.
Als sie später in die Küche gekommen war, hatte ihre Mutter sie in die Arme genommen und sich mit ihr in die gemütliche Essecke gesetzt.
Um die Wartezeit zu verkürzen, hatte sie aus ihrer eigenen Kindheit erzählt. Eigenartig konnte Amelie sich nicht daran erinnern, wo ihr Vater an diesem Nachmittag gewesen war. Er war erst gegen Abend in die Küche gekommen, um mit ihnen zu Abend zu essen.
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