Anschließend hatten sie gemeinsam einen langen Spaziergang gemacht. Damals hatte Luna, ihr Cockerspaniel, noch gelebt.
Amelie seufzte und ging weiter. Warum musste sie ausgerechnet heute an das letzte gemeinsame Weihnachtsfest denken? Während sie in Richtung Weihnachtsmarkt schlenderte, wanderten ihre Gedanken wieder zurück in die Vergangenheit.
Drei Monate später war ihre Mutter gestorben. Es war schrecklich gewesen, und Amelie hatte tagelang geweint. Ihr Vater hatte das Haus verkauft und war schon zwei Wochen später wieder zu einem Auslandseinsatz aufgebrochen. Amelie hatte er bei Tante Charlotte, seiner Schwester, zurückgelassen.
Eines Tages war auch Luna verschwunden gewesen. Bis heute hatte sie keine Ahnung, was aus dem Hund geworden war. Entschlossen schob Amelie die trüben Gedanken beiseite.
Es hatte keinen Sinn, darüber nachzudenken. Ihre Mutter war tot, und ihren Vater sah sie zweimal im Jahr. Sie konnte froh sein, dass Tante Charlotte sie aufgenommen hatte, denn sonst wäre sie unweigerlich in einem Kinderheim gelandet.
Amelie war auf dem Weihnachtsmarkt angelangt und bahnte sich einen Weg durch die dichte Menschenmenge.
»I'm dreaming of a white Christmas«, tönte aus einem Lautsprecher und Amelie lief ein Schauer über den Rücken.
Weiße Weihnacht — wie sehr wünschte sie sich das. Schön seit Jahren lag zu Weihnachten kein Schnee mehr. In diesem Jahr sah es allerdings ganz so aus, als ob es eine weiße Weihnacht geben würde. Schon seit Tagen war der Himmel mit dunklen Wolken verhangen, und es war eisig kalt.
„Ich rieche Schnee", pflegte Lisa, ihre Freundin, in jeder Pause zu sagen. Amelie war nicht sicher, ob sie wirklich Schnee roch oder es nur behauptete, denn Lisa wollte in den Weihnachtsferien Skiurlaub machen. Vor einem Karussell blieb Amelie stehen.
Eine Weile sah sie den Kindern zu, die mit strahlenden Gesichtern und glänzenden Augen Kreise drehten. Etwas wie Eifersucht schlich sich ein, als sie die Eltern der Kinder sah, die am Rand des Karussells warteten. Schnell wandte Amelie sich ab. Jetzt bereute sie es, dass sie so früh losgegangen war, Sie hatte noch eine halbe Stunde Zeit, bis sie Philipp abholen konnte. Philipp?
Der Gedanken an ihn erhellte Amelies Gesicht. Er war sehr nett. Ganz anders als die Jungs, die sie bisher kennengelernt hatte. Sie hatte vor einigen Monaten ihre Beziehung mit Hannes beendet. Der Junge dachte nur an Fußball und Sex. Das empfand Amelie nicht als Grundlage einer Beziehung. Er war ein arroganter Angeber, der nach der Trennung allen erzählte, sie wäre eine geile Fotze im Bett. Sie war froh, mit diesem Typen Schluss gemacht zu haben.
Und Simon? Er war auf Hannes gefolgt. Sie kannten sich schon von der Grundschule her und waren zusammen aufs Gymnasium gegangen. Simon war immer eine Art Bruderersatz für sie gewesen. Leider war er vor einem Jahr nach Österreich gezogen. Sie hatten eine kurze, sehr leidenschaftliche Beziehung geführt, deren Grundlage die sexuelle Befriedigung war. Amelie liebte den Sex, wenn sie den Jungen mochte. Mit Simon war sie noch immer in Kontakt. Sie schrieben sich per eMail oder über WhatsApp regelmäßig Neuigkeiten aus ihrem Leben.
Amelie seufzte wieder. Was war bloß mit ihr los? Warum musste sie nur immer an früher denken? Angewidert beobachtete Amelie einen alten Mann, der reichlich betrunken war.
Gierig verschlang er eine Bratwurst, während er gefährlich von einer Seite zur anderen schwankte. Als er ihren Blick bemerkte, verzog er den Mund zu einem Lächeln, das seinen zahnlosen Mund entblößte.
Hastig wandte Amelie sich ab und lief weiter. Vor einem Stand mit Weihnachtskugeln machte sie halt. In Gedanken ging sie den eigenen Bestand an Baumbehang durch. Nein, sie brauchte nichts mehr. Und doch reizte es sie, wenigstens ein neues Stück zu kaufen. Bisher hatte sie nur den Schmuck der Mutter verwendet.
Da ihre Tante in all den Jahren nur einen kleinen Baum gekauft hatte, war immer viel zu viel dagewesen. In diesem Jahr konnte sie endlich einmal allen Baumschmuck verwenden. Und doch wollte sie ein neues Teil haben eins, das sie selbst gekauft und bezahlt hatte.
Ihr Blick fiel auf eine wunderschöne Glaskugel, in deren Mitte ein kleines Bäumchen hing.
„Handarbeit“, erklärte die Verkäuferin, die sie aufmerksam beobachtete. „Alle unsere Kugeln sind handgemacht.“
Amelie lächelte der freundlichen Verkäuferin zu.
„Das sieht man. Sie unterscheiden sich sehr von denen, die im Supermarkt oder im Internet angeboten werden.“
„Ich weiß. Leider sind sie auch nicht ganz billig.“
„Was kostet diese Kugel da?“
„Fünfundzwanzig Euro.“
Amelie erschrak. Nein, so viel Geld konnte sie unmöglich für eine einzige Kugel bezahlen.
Die Verkäuferin schien zu ahnen, was in ihr vorging, denn plötzlich beugte sie sich vor.
„Wenn Sie sie haben wollen, kommen Sie doch am letzten Tag vorbei. Dann werden viele Sachen reduziert. Ich könnte Ihnen die Kugel zur Seite legen.“
Amelie biss sich auf die Lippen. Der Vorschlag hörte sich verlockend an, aber um wie viel würde die Kugel herabgesetzt werden? Schnell erkundigte sie sich.
„Vierzig Prozent sind üblich. Überlegen Sie es sich!“
„Darf ich Ihnen nachher Bescheid sagen?“
Die Verkäuferin nickte zustimmend. In Gedanken versunken schlenderte Amelie weiter. So langsam wurde es Zeit, zu Philipp zu gehen.
Schon von weitem sah sie ihn inmitten der vielen Bäume stehen. Heute hatte er einen dicken Schal um den Hals geschlungen, und seine Hände steckten in Wollhandschuhen.
Unwillkürlich musste Amelie schmunzeln. Sein Anblick vertrieb all die trüben Gedanken, die sie eben noch belastet hatten.
In einiger Entfernung blieb sie stehen und sah ihm zu. Er lachte viel und schien sich blendend mit seinen Kunden zu unterhalten.
In der kurzen Zeit verließ kein Kunde Philipps Stand, ohne einen Baum gekauft zu haben. Man konnte sich ausrechnen, wann sein Stand leer sein würde. Philipp begann, seine restliche Ware in die Bude zu räumen. Er musste ziemlich stark sein, denn er konnte mühelos vier Bäume gleichzeitig tragen. Langsam ging Amelie näher an seinen Verkaufsstand.
Philipp hievte gerade zwei Bäume mit Ballen hoch und wollte sie zu den anderen setzen, als er Amelie bemerkte.
„Toll, du bist ja schon da!“, freute er sich. „Ein paar Minuten noch, dann bin ich fertig. Mein Chef wird zufrieden sein.“
„Ich bin schon einige Zeit hier und habe mich umgesehen“, erzählte sie. „Kann ich dir helfen?“
Philipp sah sie amüsiert an. „Nein. Das ist keine Arbeit für dich! Manche Bäume sind ganz schön schwer. Trotzdem danke!“
Schnell räumte er den Rest ein und verschloss die Bude.
„Jetzt kann's losgehen!“
Langsam schlenderten sie an den einzelnen Buden vorbei.
„Das ist ein Rummel!“, bemerkte Philipp mehrmals staunend. „Magst du Weihnachtsmärkte?“
„Ja, ich komme jedes Jahr. Und du?“
„Ich arbeite seit zwei Jahren als Baumverkäufer. Mein Chef ist super. Er zahlt gut und ist auch sonst sehr nett. Ich spare für ein neues Auto. Mein altes stammt noch aus dem Mittelalter und benimmt sich manchmal entsprechend.“
„Wie meine Vespa. Aber das brauche ich dir ja nicht zu sagen.“
„Bist du hungrig? Ich weiß, wo es die besten Bratwürste gibt.“
Unwillkürlich musste Amelie wieder an den Betrunkenen denken. Nein, eine Bratwurst konnte sie beim besten Willen nicht essen.
„Ich mag Bratwürste nicht besonders.“
„Aha, worauf hast du dann Appetit?“
„Am liebsten würde ich eine Crêpes mit viel Nutella essen!“
„Hört, hört! Aber kein Problem, bei deiner perfekten Figur kannst du bedenkenlos solche Süßigkeiten vertragen...“
Philipp schwieg erschrocken. Hoffentlich war Amelie ihm nicht böse wegen seiner Bemerkung. Warum musste er auch immer gleich so vorlaut sein? Doch Amelie lächelte.
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