Thomas Mergel - Staat und Staatlichkeit in der europäischen Moderne

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Umfassend und verständlich führt dieser Band in die faszinierende Geschichte des Staates ein. Thomas Mergel zeigt, wie der Staat als ein historisches Phänomen zu verstehen ist, wie er entstanden ist, sich gewandelt hat und welche Perspektiven wir heute, im 21. Jahrhundert auf ihn haben können. Zudem klärt er zentrale Begriffe und führt in die Forschungsgeschichte ein.

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In dem Maß, in dem der Staat sich demokratisierte und also die Bürger nicht mehr bloß Objekte, sondern zugleich Akteure staatlichen Handelns waren, wanderte aber auch der Souveränitätsbegriff: War es in der Frühen Neuzeit der Monarch als Person, der souverän war, wurde der Staat als Institution sein Nachfolger. Mit der Amerikanischen und der Französischen Revolution tauchte aber im späten 18. Jahrhundert ein gänzlich neuer Gedanke auf: dass nämlich das Staatsvolk selbst der Souverän sei. Staatliche Souveränität als Volkssouveränität: Damit war nicht mehr ein Staat „über“ der Gesellschaft denkbar, sondern er war politischer Ausdruck der Gesellschaft. In Großbritannien, das sich bekanntlich früher parlamentarisch organisierte, hat sich deshalb eine besondere Form von Souveränität ausgebildet: Hier ist nicht das Volk, sondern das Parlament (verstanden als beide Häuser, zusammen mit der Monarchie, der crown-in-parliament ) der Souverän, als Ausdruck einer Gesamtrepräsentation der Gesellschaft. In neueren Diskussionen im Gefolge der ost- und mitteleuropäischen Revolutionen wird die Verlagerung des Souveränitätsbegriffs hin zum Bürger radikalisiert: Nun ist es nicht das gesamte Volk, sondern es sind die Bürgerinnen und Bürger auch als Individuen, deren Rechte gegenüber dem Staat geschützt werden müssen und die dessen Souveränität konstituieren. 23Die Souveränität ist mit der Demokratisierung also gewissermaßen nach unten gewandert. Ein Staat „über“ der Gesellschaft, der von oben befiehlt, ist damit nicht mehr gut denkbar.

3. Der Staat als europäisches und okzidentales Phänomen

Der hier beschriebene Idealtypus „Staat“ ist zunächst ein Phänomen der europäischen (und damit ist im Sinne Max Webers gemeint: der westlichen) Moderne. „Europa hat den Staat erfunden“ (Wolfgang Reinhard). In Asien, vor allem in China, entstanden gleichzeitig oder vielleicht auch schon früher wohl politische Herrschaftssysteme, die sehr weitreichende Kapazitäten der Mobilisierung und der inneren Durchherrschung aufwiesen. 24Nur in Europa aber entwickelten sich politische Systeme, die (in Max Webers Begrifflichkeit) „Anstaltscharakter“ aufwiesen, die relativ unabhängig waren von den Personen an der Spitze und deshalb stabil. Nur hier bildete sich eine ständige, fachgeschulte Bürokratie heraus, die auf der Basis von Qualifikation und Leistung funktionierte; nur hier gab es (als Folge des Einflusses des römischen Rechts) eine weithin ungebrochene (und staatsübergreifend vergleichbare) Rechtsentwicklung. Hier wurde ein Recht ausgebildet, bei dem der Tatbestand unabhängig von der Person und nach einem festgelegten Verfahren verhandelt wurde. Allerdings beobachteten die Europäer im Zuge der europäischen Expansion teilweise sehr genau die Formen und Strukturen politischer Herrschaft vor allem in Asien und übernahmen manches davon, meist in einem verwickelten Prozess. Es kann keine Rede davon sein, dass all das, was sich in der Neuzeit als Staat herausbildete, allein in Europa erfunden wurde. 25

Warum Europa? Dass der moderne Staat sich in Europa herausbildete, heißt noch nicht, dass er sich nur hier herausbilden konnte. Dennoch lohnt es sich, nach den spezifischen Bedingungen der Möglichkeit für diesen Prozess zu fragen. Hier ist zunächst auf die politischen und kulturellen Traditionen des Römischen Reichs und der Römischen Kirche zu verweisen, an die sich insbesondere im Bereich des Rechts anknüpfen ließ. Aber auch die Rechtsfigur des römischen Bürgers, den man als eine Vorform des Staatsbürgers verstehen kann, oder die politischen und kulturellen Traditionen der selbständigen griechischen Polis wirkten fort.

Dass sich daraus aber moderne staatliche Strukturen entwickelten, hat vor allem mit der Konkurrenz zu tun:

(1.) Die relative Kleinräumigkeit in Europa begünstigte eine ständige, oft kriegerische Konkurrenz der Herrschaft, die nicht nur zu militärischer Modernisierung, sondern auch dazu führte, dass über die Zeit die territoriale Homogenität und Integrität ebenso wie die eindeutigen Grenzen betont wurden. Im kleinräumigen, dicht besiedelten Europa waren klar gezogene Grenzen wichtiger als im großräumigen China. Die permanente Gewaltsamkeit dieser einander nahen Gesellschaften, die sich vor allem in den mörderischen Bürgerkriegen der Frühen Neuzeit äußerten, ermöglichten die Konzentration der Gewaltpotentiale, so wie das Thomas Hobbes beschrieben hatte.

(2.) Der moderne Staat ist nicht zu denken ohne den Kapitalismus, der sich ebenfalls zunächst und relativ gleichzeitig in Europa entwickelte. Der Kapitalismus bedurfte für sein Funktionieren eines Modells der friedlichen Konkurrenz, in der man sich auf rechtliche Sicherheiten verlassen und langfristig planen konnte – das konnte der Staat liefern. Gleichzeitig aber hat der Kapitalismus die neuen Staaten mit Ressourcen ausgestattet, ohne die sie niemals so umfassend kriegsfähig gewesen wären.

(3.) Dieser Kapitalismus gedieh in der okzidentalen Stadtbürgergemeinde, die sich im Wesentlichen selbst verwaltete, in der freie Bürger wirtschafteten, politisch teilhabeberechtigt waren und um die Teilhabe mit (meist) friedlichen Mitteln konkurrierten. Hier bildete sich – mühsam und ungleichzeitig – das Modell des freien Marktes aus, das auf dem freien Austausch von Gütern und Arbeitskraft beruht. Die Stadt in diesem Sinne ist ebenfalls ein europäisches Phänomen. Sie war mehr als nur eine relativ große Ansiedlung von Menschen, sondern sie war schon im Mittelalter ein selbständiges politisches Gebilde, das eine Vorform des modernen Staates und der Staatsbürgerlichkeit darstellte – die Stadtrepubliken sind gewissermaßen ein Zwischending. Außerhalb Europas gab es diese städtische Autonomie nicht.

(4.) Und schließlich ist der moderne Staat ein Ergebnis der Konkurrenz zwischen geistlicher und weltlicher Macht, die sich seit dem Hohen Mittelalter entwickelte. Dieser Dualismus, der freilich auf Jahrhunderte hinaus höchst konfliktreich blieb, ermöglichte eine Staatlichkeit, die, anders als überall sonst auf der Welt, keine religiösen Legitimationen mehr benötigte, sondern einerseits dem Individuum Freiräume gewähren konnte; die andererseits auch Ersatzreligionen wie den Nationalismus ermöglichte, welche ihrerseits eine Loyalität und Sterbebereitschaft freisetzen konnten, die religiöser Überzeugung vergleichbar war. Der europäische Staat war kein Gottesstaat.

Seit der Frühen Neuzeit wurde dieser Typ von politischer Herrschaft in die Welt hinaus exportiert, häufig sehr gewalttätig. Dort veränderte er sein Gesicht, weil er auf andere Kontexte traf. Das gilt für Asien (und unter gewissen Umständen ist man geneigt, auch Russland dazuzuzählen) ebenso wie für Afrika, wo tribale Zugehörigkeiten sich nicht leicht mit dem Konzept „Staat“, erst recht nicht mit der erfundenen „Nation“ vertrugen, oder auch für Lateinamerika, wo kolonial geprägte Siedlergesellschaften sich einer Durchstaatlichung der Gesellschaft widersetzten; Gewaltmonopol und Rechtsstaat wurden hier häufig nur prekär entwickelt. In Nordamerika jedoch bildeten die europäisch geprägten Siedlergesellschaften einen europäischen Typ von Staatlichkeit aus, auch um den Preis der Vernichtung der indigenen Völker. Insofern ist der europäische Staat eigentlich welthistorisch ein Sonderfall, eine Ausnahme. Aber er ist eben auch ein Exportartikel und viele seiner Merkmale sind in anderen Regionen implementiert worden. 26

4. Moderne Staatlichkeit und moderne Gesellschaft

Territorium, Staatsvolk, Staatsgewalt: Diese drei Kriterien kann man als Ausgangspunkt für moderne Staatlichkeit nehmen. Für die Epoche seit dem 19. Jahrhundert lassen sich einige weitere Momente erkennen, die sich zwar aus diesen Kriterien ergeben, aber sich nicht von selbst verstehen, dennoch aber unser heutiges Verständnis grundlegend bestimmen. Sie erwachsen aus dem Verhältnis des Staates zu seiner Gesellschaft, genauer: sowohl aus den Ansprüchen, die er an die Gesellschaft stellt, wie auch umgekehrt. Dieses Verhältnis war deshalb neu, weil erst seit dem späten 18. Jahrhundert beide Sphären als unterschieden wahrgenommen wurden. „Gesellschaft“ wird von uns häufig im Sinn von „alles“, der gesamten sozialen Wirklichkeit gebraucht. In einem spezifischeren, historischeren Sinne meint Gesellschaft eine Sphäre, die nicht privat (sondern öffentlich), die aber nicht politisch durchherrscht (also „staatlich“), sondern von der Freiwilligkeit der Akteure und ihrer Handlungen bestimmt ist. Im Altertum und im Mittelalter gab es keine ausdifferenzierte Gesellschaft in diesem Sinn. Eine solche entstand erst in der Neuzeit. 27„Gesellschaft“ – zunächst als „bürgerliche Gesellschaft“ oder „civil society“ – wurde im Gegensatz zum absolutistischen Fürstenstaat gebraucht. Beiden Sphären wurden unterschiedliche Funktionen zugewiesen, wobei die der Gesellschaft, folgt man dem Vordenker Georg Wilhelm Friedrich Hegel, die Sphäre war, wo die (männlichen) Privatleute sich freiwillig trafen: zum geschäftlichen Verkehr, zum Nachdenken und Diskutieren („Räsonnieren“) über gemeinsame Belange, zur Formulierung gemeinsamer Interessen. Aus dieser Sphäre der (Zivil-)Gesellschaft wurden Erwartungen an den Staat formuliert, ebenso wie der Staat sich in seinem Handeln auf diese Gesellschaft richtete.

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