Thomas Mergel - Staat und Staatlichkeit in der europäischen Moderne

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Umfassend und verständlich führt dieser Band in die faszinierende Geschichte des Staates ein. Thomas Mergel zeigt, wie der Staat als ein historisches Phänomen zu verstehen ist, wie er entstanden ist, sich gewandelt hat und welche Perspektiven wir heute, im 21. Jahrhundert auf ihn haben können. Zudem klärt er zentrale Begriffe und führt in die Forschungsgeschichte ein.

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Ein vierter Grund für den Krieg war die Entstehung verschiedener Staaten selbst. Denn die Zeitgenossen (jedenfalls auf dem Kontinent) waren es nicht gewohnt, dass es mehrere Reiche nebeneinander gab. Es gab nach herkömmlicher Vorstellung nur ein universales Reich, in der Nachfolge des Römischen Reiches und des Petrusstuhls. Die anderen politischen Gebilde waren als Vasallen gedacht. Dafür stand der Begriff des Kaisers – eben in der Nachfolge des römischen Caesar. Wenn (bis ins 17. Jahrhundert üblich) „die Christenheit“ synonym war mit „Europa“, dann war an dieses universale Reich gedacht. Eine Koexistenz verschiedener gleichrangiger und strukturell ähnlicher Gebilde konnte es also nicht geben, höchstens eine Nachfolge. Diese Konstellation war auf internationaler Ebene ausgesprochen konfliktträchtig. Nicht nur das Heilige Römische Reich mit seinem Kaiser erhob nämlich diesen Anspruch, sondern auch Frankreich, dessen „allerchristlichster König“ (so seine Selbstbezeichnung) viele Kriege im 16. und im 17. Jahrhundert mit dem Anspruch führte, die Nachfolge des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation anzutreten. Es gab aber nicht nur diese Kandidaten. Auch der schwedische König Gustav Adolf verstand sich als Inkarnation eines skandinavischen Universalreichs in der Nachfolge der Goten (also quasi ein Gegenkonzept zum Römischen Reich). Und das Russische Reich sah sich seinerseits in der Nachfolge des Oströmischen Reichs von Konstantinopel in einer universalmonarchischen Mission. Ein ähnliches Selbstverständnis hatte aber auch – jedenfalls in der Wahrnehmung der christlichen Europäer – der Sultan des Osmanischen Reiches – auf den Islam als legitimierende Religion gestützt, aber eben vom alten Ostrom, Konstantinopel, aus.

2.2 Kriegführung und frühe Staatlichkeit

Beschleunigend wirkte, dass diese Staaten im Entstehen institutionell noch ausgesprochen instabil waren. Die Regeln, nach denen Politik verlaufen sollte, standen noch nicht eindeutig fest, wurden nicht eingehalten und Verstöße waren nicht nach einem allgemeinen Regelkatalog sanktionierbar. Das erwies sich beim Verhältnis von Monarch und Ständen (vor allem in England) oder bei der Frage der Einhaltung von Verträgen. Insbesondere an der monarchischen Nachfolge entzündeten sich häufig internationale Konflikte, so dass Erbfolgekriege ein häufiger Typus frühneuzeitlicher Kriege waren. Generell gilt: Das Fehlen anerkannter Regeln und Verfahren bedingte, dass man schnell zur Waffe griff.

Die Kriegführung selbst reflektierte die hybride und noch unausgebildete Staatlichkeit. Die politische Herrschaft verfügte im Allgemeinen nicht über die Möglichkeiten, eigene stehende Heere aufzustellen, die eigenen Bauern waren militärisch zu wenig kompetent und mussten ja außerdem das Land bestellen, so dass der Krieg gewöhnlich mit kurzfristig angeworbenen, freiberuflichen Söldnern geführt wurde, die am Ende des Krieges wieder entlassen wurden. Deshalb war in Friedenszeiten die Banditenplage ein viel größeres Problem als im Krieg, weil die arbeitslosen Söldner sich neue Formen des Lebensunterhalts suchten. Manche Gegenden wie die Schweiz haben aus dem Söldnertum ein einträgliches Geschäft gemacht: Die Schweizer Bauernsöhne, die sich jedes Jahr nach der Ernte für die europäischen Kriegsschauplätze anwerben ließen, waren für ihre Kriegsfertigkeit (man könnte auch sagen: Brutalität) berühmt. Ein Überrest ist die vatikanische Schweizergarde.

Die großen Kriege überließ der frühmoderne Staat im Wesentlichen privaten Kriegsunternehmern, die auf eigene Rechnung arbeiteten und mit Subunternehmern weitere Verträge schlossen; diese stellten die Offiziere der verschiedenen Einheiten, die dann notdürftig zu einer Armee zusammengebaut wurden. Im Dreißigjährigen Krieg waren 1500 Militärunternehmer verschiedenster Größenordnung tätig. Der Krieg wurde damit nicht privatisiert; er war ja vorher nicht öffentlich gewesen. Vielmehr könnte man ihn vielleicht als eine public-private partnership bezeichnen: als eine Auftragsübernahme der Staatsgewalt durch Private, in ständiger Konkurrenz um die Grenzen dieses Auftrags, denn viele Kriegsunternehmer wollten mehr als nur Subunternehmer sein und ihrerseits stabile politische Herrschaft bilden. Die relative Stärke der in dieser Zeit schon erreichten Staatsgewalt sieht man umgekehrt daran, dass es keinem der Kriegsunternehmer, nicht einmal Wallenstein, dem Erfolgreichsten, gelang, dauerhaft selbst staatsbildend erfolgreich zu werden.

Die Währung, in der die privaten Unternehmer bezahlt wurden, konnte Geld, das Recht zu plündern, aber auch den Aufbau ganzer Adelsherrschaften umfassen. Das verlängerte den Krieg, denn die Soldaten und ihre Führer hatten ein regelrechtes beschäftigungspolitisches Interesse am Krieg, und es sind Fälle bezeugt (so bei der Belagerung von Groningen um 1500), wo Söldner im Dienste des Erhalts ihres Arbeitsplatzes einen Friedensschluss verhinderten. 10Und je länger die Kriege dauerten, je dichter sie aufeinander folgten, je mehr Ressourcen der Staat auch abschöpfen konnte, desto eher lohnte sich der Aufbau stehender Heere, die dann wiederum ein Kern der staatlichen Kriegführung im 18. Jahrhundert geworden sind. Insofern hat die Bellizität der Epoche den Aufbau eines staatlichen Militärapparats befördert, und damit auch den Ausbau einer staatlichen Steuer- und Schuldenverwaltung vorangetrieben 11

Die Allgegenwart der kriegerischen Auseinandersetzungen führte dazu, dass die Grenze zwischen dem eigenen Herrschaftsbereich und dem des Feindes klarer definiert wurde und dass damit präziser bestimmbar wurde, wann der Kriegsfall eintrat: nämlich bei der Überschreitung dieser Grenze. 12Das galt vor allem für die sich langsam entwickelnden Nationalstaaten. In den Imperien – dem Osmanischen Reich, dem Habsburgerreich, dem Russischen Reich –, in denen Grenzen ohnehin nicht klar bestimmbar waren und deshalb eher von Grenzzonen als von Grenzlinien gesprochen werden muss, war das weniger der Fall. Aber Nationalstaaten beschrieben sich durch klare Grenzen, die sie durch den Bau von Verteidigungsanlagen präzise festlegten; umgekehrt wurde auch ihre Entwicklung durch die klarere Bestimmung von Grenzen begleitet. Der französische Festungsbauer Sebastian de Vauban, Pionier seines Faches, zog einen Ring von hochentwickelten Festungen um das, was nun als „Frankreich“ zu gelten hatte. Diese Festungen dienten nicht nur als Verteidigungsorte und als permanente Drohung gegen den Nachbarn, sondern auch als Zeichen nach innen: Hier herrschte nur der französische König. Die klare Abgrenzung von Territorien diente demgemäß ebenso der Durchsetzung eines einheitlichen Rechts wie auch der finanziellen Abschöpfung. „Untertan“ – später sollte der Staatsbürger daraus werden –, war nun derjenige, der auf diesem Territorium lebte, von gewissen Ausnahmen abgesehen. Und auf diesen Untertanen hatte die Obrigkeit Zugriff, nicht nur in ökonomischer oder militärischer Hinsicht, sondern auch, was seinen Glauben betraf. Diese territoriale Grenzziehung hatte sich schon mit dem Prinzip „Cuius regio, eius religio“ des Augsburger Religionsfriedens von 1555 angedeutet. Der Westfälische Friede von 1648 stellte dieses Prinzip auf Dauer. Danach wurden eindeutige Grenzziehungen zu einem Standardmoment auf Landkarten, um unterschiedliche Staaten zu bezeichnen.

An den Rändern Europas waren diese Grenzen auch Kulturgrenzen, was ebenfalls nicht hieß, dass dies „harte“ Grenzen waren. Die Grenze zur muslimischen Kultur, etwa an der iberischen frontera, war das ganze Mittelalter hindurch nicht nur kriegerische „heiße Grenze“, sondern auch Zone des Austauschs. Gleichzeitig haben diese Grenzgesellschaften den Aufbau staatlicher Strukturen erleichtert, weil hier die Ressourcen so energisch wie möglich zusammengehalten und mobilisiert werden mussten. 13Man könnte zuspitzen: Die – kriegerische oder friedliche – Grenze zur muslimisch-arabischen Kultur war ein Grund dafür, warum sich in Spanien ein Staat im modernen Sinn relativ früh ausgebildet hat.

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