1 ...7 8 9 11 12 13 ...17 Hier zeigt sich ein kleiner Nachteil meines Modells. Die hierarchische Struktur mit einem Text als Spitze ist festgelegt, auch wenn, wie im letztgenannten Beispiel, andere hierarchische Beziehungen simultan verzeichnet werden. Wenn Horaz’ Satiren etwa ebenfalls auf Lukrez rekurrieren, müssten sie eigentlich selbst an der Spitze einer Intertextualitätspyramide stehen, von der aus ein Pfeil ‚hinab‘ zu Lukrez’ De rerum natura sowie weiteren relevanten Intertexten zeigt. Dieser Nachteil, dass jeweils nur eine ‚Hierarchieperspektive‘ dargestellt werden kann, lässt sich aber dadurch kompensieren, dass das Modell auf andere Verhältnisse übertragbar ist. Die Texte an den Punkten der Pyramide sind austauschbar, man kann sich dieses Visualisierungsversuches also bei jedem Gespräch über Intertextualität bedienen und nach Wunsch mehrere Intertextualitätspyramiden nebeneinanderstellen.
Ich betrachte also in den folgenden Kapiteln, die sich an den Texten und Gattungen orientieren, sowohl Referenzen auf einzelne Prätexte als auch auf Gattungssysteme und untersuche bei einer nützlichen Zusammenführung dieser beiden Perspektiven beides gleichzeitig – etwa auch, wenn mehr als nur ein Prätext für eine Remedia -Passage relevant ist und so ein mehrsträngiges Intertextualitätsgeflecht entsteht oder sich eben Aussagen zu Gattungstraditionen, die durch diese Texte vermittelt sind, treffen lassen. Das heißt, dass ich einerseits je eine Verbindung zwischen den Remedia und einem Intertext-Eckpunkt, also den ‚Pfeil‘ an jeweils einer Kante entlang, fokussiere und andererseits auch ‚Intertextualitätsvielecke‘ mit berücksichtige, die zusätzlich Gattungsebenen aufspannen können. Damit möchte ich dem Vorgehen Ovids, zugleich auf etwa Horaz, Lukrez, Catull und seine eigene Ars und damit auch auf die Gattungen Satire, Jambus und erotisches Lehrgedicht anzuspielen, analytisch gerecht werden.14 Ich versuche dabei, deutlich zu benennen, welche Erkenntnisse sich auf einzelne Prätexte beziehen und wann Aussagen zu Gattungssystemen möglich sind, bei Überschneidungen also dadurch größtmögliche Klarheit schaffen – was insofern nicht immer leicht ist, als man die bei Ovid gleichzeitig stattfindenden Intertextualitätsprozesse in einzelnen, voneinander getrennten Schritten untersuchen und evaluieren muss. Alle diese Aufgliederungs- und Interpretationsversuche dienen jedoch letztlich dem Ziel, das Verständnis einzelner Textpassagen sowie des Gesamtkontextes und der strukturellen Komposition der Remedia zu fördern und dem (kallimacheischen) Kunstwerk eines fein gesponnenes Netzes an Bezügen gerecht zu werden.
Abbildung 1:
Allgemeines Strukturmodell der Intertextualitätspyramide
Abbildung 2:
Jambische Traditionen im Pyramidenmodell zu den Remedia amoris
Abbildung 3:
Didaktische Traditionen im Pyramidenmodell zu den Remedia amoris
Abbildung 4:
Intertextualitätsvieleck zu den ‚Sex- praecepta ‘
4 (Gattungs-)Rezeption, Innovation und Intertextualität in den Remedia amoris
Auf der Grundlage der Ausführungen zum literaturtheoretischen Rahmen und der Struktur der Remedia wird im Folgenden untersucht, wie Ovid paradigmatische Texte seiner Zeit, v. a. das Lehrgedicht des Lukrez, Horaz’ Epoden und Satiren und Catulls Carmina , strukturell und motivisch in seine Remedia integriert und durch Transgression von Gattungsgrenzen bzw. produktiv-reorganisierende Rezeption und Integration von insbesondere jambisch-satirischen Gattungsmerkmalen dem erotodidaktischen Lehrgedicht seine spezifische Form gibt.
4.1 Ovids parodistische Inversion von Lukrez’ philosophischem Lehrgedicht
Zum ersten Mal greifbar wird die intertextuelle Bezugnahme auf Lukrez’ Diatribe gegen die Liebesleidenschaft im Finale von De rerum natura liber 4 (Lucr. 4, 1058–1191) bei der Frage danach, wann der Heilungsprozess am besten einzuleiten sei (vgl. V. 79–134), also noch in der Einleitung zu Ovids tractatio .1
Weitaus deutlicher treten diese Parallelen jedoch innerhalb der ‚ ars agendi ‘ der Remedia zu Tage (vgl. V. 135–488). Im Folgenden belege ich die These, dass sich die Weisungen des lukrezischen praeceptor wie eine intertextuelle Klammer um die ersten Vorschriften Ovids legen, bevor dieser in der Aufforderung zur Selbsttäuschung die epikureische Basis von De rerum natura invertiert und praecepta vorstellt, die kontrapunktierend über Lukrez hinausgehen.2 Dass es legitim ist, Lukrez als einem der ‚Archegeten‘ der Gattung Lehrgedicht eine Wirkung auf Ovids Text zuzuschreiben und De rerum natura als Anknüpfungspunkt für die Remedia zu untersuchen, sehe ich in zweierlei Hinsicht begründet. Zum einen ist der Einfluss des Hexameteropus auf die Literatur der augusteischen Zeit im Allgemeinen vielfach spürbar.3 Zum anderen erwähnt Ovid, als einziger Dichter seiner Zeit, Lukrez namentlich,4 und zwar als sublimis Lucretius in am. 1, 15, 23 und trist. 2, 423–428. Dabei ist besonders das vierte Buch des didaktischen Prätextes für die intertextuelle Referenz relevant.
4.1.1 Die Grundkonzeption von De rerum natura liber 4 und die Bedeutung der ‚Bilder‘
Im Buchpaar1 der libri 3 und 4 werden die atomistischen Grundprinzipien, die Lukrez in den ersten beiden Büchern entfaltet, auf das menschliche Leben angewandt: Buch 3 behandelt die Beschaffenheit der Seele und Buch 4 die Sinneswahrnehmungen. Das Ziel besteht darin, psychophysische Phänomene wie Wahrnehmung, Verlangen und Schlaf zu erklären,2 wobei die Themen „effluence“, also Wahrnehmung durch den Ausfluss von Partikeln eines Objektes, und ‚Illusion‘ dominieren.3 Das Fundament hierfür bildet, wie etwa Robert Brown (1987) ausführt, die epikureisch-atomistische Erkenntnistheorie, die besagt, dass εἴδωλα/ simulacra als materielle Basis für sinnliche Wahrnehmung fungieren und sie generieren (vgl. auch Lucr. 4, 26–822).4 Diese wiederum stelle das Kriterium für wahre Erkenntnis dar (vgl. Lucr. 1, 422–425 und 693–700 sowie Lucr. 4, 469–521),5 während Irrglaube, Illusion und falsche Vorstellungen für Lukrez darin begründet lägen, dass der Verstand die sensuellen Daten falsch evaluiert und interpretiert (vgl. etwa Lucr. 4, 379–468).6 Dementsprechend werde im Fall der, von Epikureern als negativ beurteilten, Liebesleidenschaft die Attraktivität des geliebten Menschen nicht mehr nur für sexuelle Stimulation und körperliche Befriedigung genutzt.7 Vielmehr seien die Bildchen, die der geliebte Mensch aussende, als dianoetische simulacra im Verstand des Betroffenen präsent. Deshalb beginne dieser, bei Abwesenheit des/der Geliebten8 von seinem/ihrem Bild besessen zu sein (vgl. V. 1037–1072) und der physischen Erscheinung über die sinnliche Wahrnehmung hinaus falsche Qualitäten zuzuschreiben (vgl. V. 1149–1191).9 In ihrer Gegenwart überhöhe er die Erotik ihrer Ausstrahlung, deren eigentliche Funktion nur sexuelle Erregung mit nachfolgendem Koitus sein sollte; doch anstatt dem sexuellen physiologischen Drang Folge zu leisten, konzentriere sich der Verliebte ausschließlich auf eine Person, er schiebe die Befriedigung auf und müsse so psychisch und physisch negative Folgen ertragen (vgl. Lucr. 4, 1073–1120).10 Die Liebe ist nach epikureischen Gesichtspunkten ein furor , ein Zustand der emotionalen Besessenheit vom Bild der Geliebten.11 Dementsprechend lautet eines der ersten praecepta in der Diatribe des Lukrez, dass der Liebende die simulacra des Objekts seiner Begierde aus seinem Geist vertreiben und sich nicht der unersättlichen Liebesraserei hingeben solle: sed fugitare decet simulacra et pabula amoris / absterrere sibi atque alio conuertere mentem (Lucr. 4, 1063f.).
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