Epilog
Villasimius
Bruno
Das sanfte Rauschen der Brandung klingt wie eine Melodie, der Strand liegt im schönsten Sonnenlicht voller Wehmut da, als ob melancholische Sehnsucht untrennbar mit dieser unberührten Landschaft verbunden sei. Wir haben beschlossen, uns vor der Rückreise noch ein wenig Meer zu gönnen. Aber nicht das Meer an der Costa Smeralda, sondern das unendlich weite und wilde bei Villasimius im Südosten der Insel, dessen würzige Salzluft direkt in unser Hotelzimmer dringt. Vom Fenster aus sehen wir die Sarazenentürme und die Leuchttürme, deren Lichter die Küste abtasten, die Granitfelsen und diesen kompakten roten Sand mit weißlichen Einsprengseln; ein Fläschchen damit steht immer noch hier in meinem Bücherregal. Mit den Augen suchen wir den Horizont nach einem Flamingo, einem Kormoran oder einer Silbermöwe ab. Wir hatten Meer dringend nötig, und zwar genau dieses Meer. In dem von grünblauem Wasser umspielten La Caletta lassen wir unsere Erlebnisse noch einmal Revue passieren. Ganz früh am Morgen sind wir zu einem Spaziergang aufgebrochen und haben uns sofort mit einem Fischer angefreundet. Ein alter Mann, sein Gesicht wird mir immer in Erinnerung bleiben. Er war nicht besonders groß, sein Haar war noch nicht ergraut und sein Gesicht sonnenverbrannt und voller Falten. Am Anfang verständigten wir uns nur mit Blicken und ein paar unbeholfenen Worten unsererseits. Er war gerade mit seinem Boot eingelaufen und bot uns Seeigel an, deren köstlichen Geschmack wir so bald nicht vergessen werden. Er trat näher, während er mich unverwandt anschaute, und ich lächelte ihm zu, wie immer, wenn ich einem Fremden begegne. Er lächelte zurück. Jutta ging ans Meer und ließ ihre Füße von den Wellen umspielen, sie war hin- und hergerissen, ob sie nicht schwimmen gehen sollte, obwohl das Wasser schon sehr kalt war. Der Fischer bedeutete mir, mich zu setzen. Mit den Händen strich er den Sand glatt und nahm sich ein Stöckchen. Immer noch sagte er kein Wort, und das erstaunte mich sehr, aber ich respektierte sein Schweigen. Nun zog er viele Linien in den Sand, schrieb für mich seinen Namen »Pineddu« und reichte dann das Stöckchen an mich weiter, weil er meinen wissen wollte. Er lächelte erneut und zeichnete wieder Striche in den Sand, die sich zu Figuren, Szenen und Geschichten zusammenfügten. Vielleicht hatte er sich die Geschichten selbst ausgedacht, Geschichten ohne Worte, nur Linien im Sand, Geschichten, die so lange dauern, bis eine Welle sie wieder fortspült. Einfache, wunderschöne Geschichten aus einer stummen Welt, denn der Mann war stumm, wie ich von den anderen Fischern des Dorfes erfuhr. Er war ein Einzelgänger, er kannte den Klang seiner Stimme nicht, weil er noch nie gesprochen hatte. In seinen Augen leuchtete das Licht des Lebens, und der Schmerz war nur ein leiser Schatten darin. Ich traf ihn am nächsten Tag wieder, er erwartete mich schon an diesem winzigen, wilden Strand und wollte mir wieder Seeigel schenken. Aber an diesem Morgen kam er mit einem Stift, zwei leeren Blättern und einer kleinen Flasche. Es war klar, was er wollte. Er wusste, dass wir am nächsten Tag abreisen mussten. Nun wollte er unsere Geschichte erfahren. Er drückte mir den Kugelschreiber in die Hand und legte mir das Papier auf die Knie. Ich zitterte. Wo sollte ich anfangen? Ich sog den Duft des Meeres ein und begann unsicher, über meinen nächtlichen Ausritt mit Ferru zu schreiben. Jetzt treibt eine Abschrift davon, versiegelt in einer Flasche, irgendwo im Tyrrhenischen Meer, eine weitere ist bei Pineddu geblieben, der kleinen großen Seele von Villasimius. Während ich schreibe, betrachte ich die kleine Flasche in meinem Bücherregal: Darin entdecke ich Bilder und Menschen, Erinnerungen, die immer wiederkehren.
Villasimius
Jutta
Erinnerungen verändern sich, Erfahrungen verlieren mit dem Fluss der Zeit an Gewicht, vor kurzem noch Tragödie, jetzt plötzlich Komödie. Im Sich-nicht-so-ernst-Nehmen liegt das Geheimnis. In Bewegung bleiben, nach allen Seiten offen sein, Schranken in ihre Schranken verweisen und sie nicht an sich heranlassen, das Individuum gewähren und Milde walten lassen.
Ich schwimme im Meer.
Heimlich bin ich nachts aufgestanden, nachdem ich mich vergewissert hatte, dass die tiefen Atemzüge, die Brunos Brust entströmten, Tiefschlaf bedeuten, und habe die große Terrassentür geöffnet, um die milde Herbstluft in unser Schlafzimmer zu bitten. Den weißen, fast durchsichtigen Vorhang ließ ich davor hängen. Mit jedem Windhauch blähte er sich wie ein Segel, dann fiel das Segel in sich zusammen und entließ die gefangene Luft, um sie im Zimmer tanzen zu lassen. Sie streifte sacht meine Nasenspitze, und der Duft von Tang und Salz betörte mich. Ich konnte kaum die ersten Anzeichen von Tageslicht erwarten. Mein Plan stand fest. Kaum färbte sich das weiße Segel rosagrau, stieg ich aus dem Bett, leise, behutsam. Schlang ein bereitgelegtes Handtuch um meinen nackten Körper und schlich barfuß hinaus ins Freie. Lief über taunasses Gras, entlang am verschlammten Salzsee, dem die Ebbe fast gänzlich das Wasser entzogen hatte und in dem sich Hunderte verschlafene Flamingos einbeinig ihren Träumen hingaben, denn bevor nicht die Flut ihnen neue Nahrung lieferte, gab es nichts, was sie versäumen konnten.
Am Strand offenbart sich mir ein silbrig blauer Spiegel bis zum Horizont. Ich bin absolut allein. Nirgendwo eine Menschenseele. Vorsichtig tauche ich meine Füße in die fast unmerklichen kleinen Wellen. Erschaudere ob der Kühle, die sie umfängt. Kurz überlege ich mir, ob ich meinen Plan nicht doch besser fallenlasse und wieder zurückkehre in mein warmes Bett, verwerfe jedoch blitzartig den Gedanken, denn vielleicht habe ich nie mehr die Gelegenheit, so früh am Morgen, so spät in der Jahreszeit ins Meer hinauszuschwimmen. Also atme ich tief ein und gehe zügig auf weichem Sand ins Wasser, bis mein Bauch umspült ist und ich eintauchen kann in die salzige Flut. Wunderbar weich und letztlich viel wärmer als im ersten Moment empfunden ist das Meer. Hier kann ich mich hingeben. Bewusst meinem Atem lauschen, meinen Schwimmbewegungen folgen und dem Herrgott danken, dass ich diesen Moment erleben darf. Zug um Zug tauche ich ein, schwimme zügig, mal auf dem Rücken, mal auf dem Bauch, drehe mich im Wasser und fühle mich wie ein Delphin, so leicht, so heiter. Endlos könnte ich so hinausschwimmen, habe ich doch keine Angst, weder vor der Tiefe unter mir noch vor seinen Bewohnern. Ich weiß, mein Schwimmen ist beschützt, im Universum freut man sich über meinen Mut. Plötzlich verändert sich die Farbe des Meeres. Was gerade noch ein bleifarbenes Blau war, ist nun pures Gold. Ich folge dem goldenen Strom, der am Ende in die aufgehende Sonne mündet. Endlos könnte ich darin schwimmen. Ein so großes Glücksgefühl macht sich in mir breit, wie ich es lange schon nicht mehr erlebt habe, und unendlich dankbar lasse ich mich auf dem Rücken treiben. Ich blicke hinauf zum Himmel. Die letzten Sterne verschwinden im morgendlichen Schleier. So bleibe ich liegen, schwerelos, vom Salz getragen. Erst als Minuten später der Zauber vorüber ist, beschließe ich, umzudrehen und zurückzuschwimmen an den weit entfernten Strand. Eingehüllt in das Badehandtuch lasse ich mich am Strand in dem noch kühlen Sand nieder.
Nach wie vor ist niemand zu sehen. So rubble ich mich trocken, rolle das Handtuch zusammen und setze mich im Schneidersitz darauf, um nackt, wie Gott mich schuf, in Meditation zu gehen.
Betrachte ich nun in diesem Moment Bruno und mich, so kann die Wahrnehmung unterschiedlicher nicht sein. Vermutlich schläft er noch tief, erwartete er doch von dieser Nacht eine ausgiebige Erholung. Diese schien gewährleistet zu sein, nachdem er die Terrassentür fest verriegelte, um ja durch nichts und niemanden gestört zu werden. Mit dem festen Entschluss, mindestens zehn Stunden durchzuschlafen, verabschiedete er sich gestern Abend von mir, bevor er sich zusammenrollte. Ich hingegen schnupperte die überwältigende Natur, das Abenteuer und erwartete von dieser Nacht, dass sie mir einen tiefen, aber kurzen Schlaf schenken und mich am frühen Morgen in die Stille, in das Unberührte entlassen würde.
Читать дальше