Der Pazifik vor der kalifornischen Küste im April 1863
Ruhig und majestätisch durchschnitt der gedrungene, wannenförmige Rumpf der CORA SUE auf ihrer Fahrt nach Norden den stahlblauen Ozean. An Bord herrschte eine gelöste, fast heitere Stimmung. Offiziere und Mannschaften waren zufrieden mit dem Ergebnis der Fahrt.
Vor der spitzen Landzunge Niederkaliforniens, in der Bahia Magdalena und der Laguna San Ignacio, waren die Männer auf solche Massen von Grauwalen gestoßen, daß es ein wahres Fest gewesen war. Ein blutiges Fest, aber das war der Alltag der Seeleute. Immer wieder bohrten sich die Harpunenspitzen der Fangbootbesatzungen in die mächtigen Körper der Meerestiere. Die Leute an Bord des Dreimasters waren mit dem Abspecken und Trankochen kaum nachgekommen. Jetzt füllten Fässer der unterschiedlichsten Größen, randvoll mit ausgekochtem Walöl, die CORA SUE fast bis zum letzten Winkel.
Ein doppelter Grund zur Freude. Zum einen kehrte das Schiff früher als beabsichtigt nach San Francisco zurück, zum anderen sicherte der reiche Fang den Seeleuten eine fette Provision. Wie alle Männer an Bord eines Walfängers erhielten sie keine Heuer, sondern waren am Gewinn beteiligt.
Jetzt, wo es nicht mehr viel zu tun gab, waren einige der Seeleute schon damit beschäftigt, ihren Profit beim Würfel-und Kartenspiel umzuverteilen, bevor sie ihn in Händen hielten.
John Raven, zu vierzig Prozent Eigner der CORA SUE und ihr Erster Steuermann, stand mit seinem Bruder Charles und seiner Schwägerin Cora Sue auf der Brücke und genoß die leichte Brise frischer Seeluft. Trotz der vielen Wochen und Monate auf See schmeckte die Salzwasserluft wieder, jetzt, da die baldige Heimkehr und der Erfolg der Fangfahrt feststanden.
John Raven, der das Steuerrad hielt, warf den beiden anderen unbemerkt neidische Blicke zu. Er selbst wäre gern Cora Sues Mann geworden.
Beide Brüder hatten die hübsche Kaufmannstochter aus Monterey umworben. Äußerlich war der große, schlanke John Raven der stattlichere Mann. Aber die kleine, fast zierliche Frau mit dem rabenschwarzen Haar, das ihre spanischen Vorfahren verriet, hatte dem reiferen, ruhigeren Bruder den Vorzug gegeben. Außerdem war Charles Raven zu sechzig Prozent Eigner und Kapitän der CORA SUE, wie er das Schiff nach der Heirat getauft hatte.
Die junge Liebe war so groß, daß Cora Sue ihren Mann auf allen Fahrten begleitete.
Einerseits war John Raven froh darüber; er liebte die Frau noch immer und genoß jeden Augenblick ihrer Nähe.
Andererseits schmerzte ihn Cora Sues Anblick, gerade weil er sie liebte. Sie so nah vor sich zu sehen und doch unerreichbar zu wissen, tat seinem Herzen so weh, als würde es von einer Harpune durchbohrt werden.
»Wal, da bläst er!« hallte auf einmal der kehlige Ruf des Ausgucks über das ganze Schiff. »Wal voraus!«
Aber nur ein paar Männer machten sich die Mühe, an die Reling zu laufen, um nach dem gemeldeten Tier auszuspähen. Die Leute waren abgekämpft und wußten, daß kein einziges Faß Walöl mehr an Bord der Bark Platz hatte.
Charles Raven drehte sich zu seinem jüngeren Bruder um und sagte grinsend: »So eine Fahrt habe ich noch nie erlebt, John. Die Wale drängen sich uns regelrecht auf. Als fühlten sie in sich einen natürlichen Trieb, sich an Bord der CORA SUE zu Öl verkochen zu lassen.«
»Trotzdem seltsam, daß so weit im Norden ein Grauwal schwimmen soll«, erwiderte John Raven und kniff die Augen zusammen, um das Tier zu erspähen.
»Vielleicht ist es kein Grauer, sondern ein anderes Tier«, meinte der Kapitän.
»Bloß was für eins, ich kann nichts entdecken.«
Auch Charles Raven spähte aufs offene Meer hinaus. Über sein Gesicht hielt er die flache Hand, um die Augen gegen die leuchtende Frühlingssonne abzuschirmen, die hoch am azurnen Himmel stand.
Schließlich schüttelte er den Kopf und brummte: »Hol's der Klabautermann, ich sehe nur Wasser, aber keinen Wal.«
Er hob den Kopf in Richtung Krähennest, legte die Hände trichterförmig vor den Mund und schrie: »He, Matrose, wo steckt der Wal?«
»Unter Wasser, Käpten. Hatte ihn kaum erspäht, da ist er auch schon wieder abgetau...«
Mitten im Satz brach der Ausguck ab und riß die Augen vor Schreck auf. Seine Stimme überschlug sich, als er schrie:
»Da. da ist er, direkt vor dem Bug. Er greift das Schiff an!«
Kaum hatte er ausgesprochen, da ging eine gewaltige Erschütterung durch den Schiffsrumpf. Das Krachen des Zusammenpralls und das Splittern hölzerner Planken vermischten sich mit aufgeregten Schreien. Die CORA SUE wurde am Bug angehoben, als sei der Wal daruntergeschwommen und plötzlich aufgetaucht.
Die sonst so standfesten Seeleute purzelten durcheinander wie eingefleischte Landratten auf ihrer ersten Schiffsreise. Der Ausguck konnte sich nur mit Mühe im Krähennest halten.
Eine ganze Reihe der auf Deck stehenden Walölfässer stürzte um. Die Fässer rollten übers Deck, prallten gegen Masten und Aufbauten. Ein paar Behälter zersprangen, und das Öl ergoß sich über die hölzernen Planken. Andere Fässer zerschmetterten die Knochen unglücklicher Seeleute.
Binnen Sekunden hatte sich die ruhige Heimfahrt der CORA SUE in eine Hölle verwandelt.
Eins der herumrollenden Fässer erwischte den Kapitän und riß ihn von den Beinen.
»Charles!« schrie Cora Sue Raven auf und wollte ihrem Mann zu Hilfe eilen.
In diesem Augenblick senkte sich die Back des Seglers wieder. Dadurch verlor die Frau das Gleichgewicht, taumelte zurück und fiel über die Reling ins Wasser.
John Raven zögerte kaum eine Sekunde. Dann hatte er sich entschieden, seine Pflicht gegenüber dem Schiff zu vernachlässigen, um der geliebten Frau zu helfen. Er sprang ins Meer, um Cora Sue zu helfen.
Das rettete ihm wohl das Leben.
Kaum war er aus den über ihm zusammenschlagenden Wogen wieder aufgetaucht, da dröhnte eine Explosion in seinen Ohren. Der Bug der CORA SUE platzte auseinander wie ein aufgeschlagenes Ei.
Schlimmer war noch, daß sich die Bark innerhalb von Sekunden in ein gigantisches Flammenmeer verwandelte. Das ausgelaufene Walöl fing Feuer, und das Feuer verwandelte die Seeleute in lebendige Fackeln.
Nur wenigen gelang es, ins Wasser zu springen. Die meisten verbrannten vorher.
John Raven spürte einen heißen, stechenden Schmerz im linken Auge. Ein brennender Holzsplitter hatte sich in die Augenhöhle gebohrt.
Der Schmerz überwältigte ihn. Er vergaß das Schwimmen und tauchte unter.
Das Wasser tat gut, löschte das Brennen und brachte ihn wieder zu Bewußtsein.
Mit zwei schnellen Stößen gelangte er an die Wasseroberfläche und spürte die Hitzewelle der verbrennenden Bark. Um ihn herum stürzten flammende Trümmer ins Meer wie ein Schwarm vom Himmel fallender Kometen.
Endlich entdeckte er in dem Chaos die geliebte Frau. Er konzentrierte seinen Blick auf sie und mißachtete, daß es nur noch ein halber Blick war.
Auch Cora Sue hatte ihn gesehen und schwamm auf ihn zu. Er rief ihren Namen. Sie antwortete etwas. Was, das ging im Inferno des auseinanderbrechenden Walfängers unter.
Der brennende Fockmast knickte um und schleuderte den Ausguck aus dem Krähennest.
Das schwere Holz stürzte auf die schwimmende Frau und begrub sie unter sich.
John Raven schwamm mit aller Kraft auf die Stelle zu, wo er zuletzt Cora Sues schönes, erschrockenes Gesicht gesehen hatte.
Aber er kam nicht an die geliebte Frau heran. Die Trümmer des Fockmastes standen in hellen Flammen.
Er versuchte es unter Wasser, immer und immer wieder.
Vergebens.
Cora Sue blieb verschwunden.
Meer und Feuer hatten sie gefressen wie das nach ihr benannte Schiff.
*
San Francisco, elf Monate später, am 2. März 1864
Als die geschlossene Kutsche mit der berittenen Eskorte auf dem Kai vorfuhr, wußte Piet Hansen schon, daß sie ihn abholen kamen. So wie gestern, als sie ihn zum Verhör in die hiesige Kommandantur der US-Navy gebracht hatten.
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