Wir hatten Glück. Der Senior Management Adviser des Garamba-Rehabilitations-Projekts, Charles Mackie, holte uns mit einer Cessna, die normalerweise zum Verfolgen von Wilddieben eingesetzt wird, vom Flughafen ab. Die unmittelbar neben dem Park gelegene Piste, auf der wir landeten, war nicht mehr als ein flachgeklopftes Stück Gras, über das wir prallten und hüpften, bis die Maschine endlich schlingernd zum Stillstand kam. Es war eine gravierende Veränderung gegenüber den nebligen, kühlen Wäldern um die Virunga-Vulkane – Grasland, das sich in alle Himmelsrichtungen bis zum Horizont erstreckte, heiße, trockene Luft, ein Landrover, der über staubige Straßen durch die Savanne holperte, und Elefanten, die sich schwerfällig durch die flimmernde Ferne schleppten.
Am Abend waren wir bei Kes und ihrem Mann Fraser, einem der Park-Aufseher, zum Essen eingeladen. Sie hatten ihr Haus selbst gebaut, draußen im Busch, am Ufer des Flusses. Das Haus ist ein langer, flacher, verschachtelter Bau voller Bücher und größtenteils nicht wettergeschützt – wenn es regnet, hängen sie Planen vor die Fensteröffnungen, in denen die Scheiben fehlen. Während der zweijährigen Bauzeit hatten sie in einer kleinen Lehmhütte gewohnt; mit einem Haus-Mungo, der auf der Suche nach Würmern ständig den Boden aufbuddelte, einem Hund, zwei Katzen – und einem Baby.
Da ihr Haus so offen ist, ist es grundsätzlich voller Tiere. Ein junges Flußpferd kommt zum Beispiel regelmäßig vorbei, um auf den Topfpflanzen im Wohnzimmer herumzukauen. Es bleibt dann häufig über Nacht und schläft, den Kopf neben das Bett des (zweiten) Babys gebettet, im Schlafzimmer. Im Garten gibt es Schlangen und Elefanten, Ratten, die dauernd die Seife auffressen, und Termiten, die hin und wieder die tragenden Pfosten des Hauses wegknabbern.
Die einzigen Tiere, die Kes und Fraser jedoch wirklich beunruhigen, sind die Krokodile, die im Fluß am Ende des Gartens leben. Ihr Hund wurde von einem gefressen.
»Es ist schon ein bißchen besorgniserregend«, erzählte Kes. »Aber wir müssen unser Leben halt den Umständen entsprechend gestalten. In der Stadt müßten wir uns Sorgen darüber machen, daß unsere Kinder von einem Bus überfahren oder entführt werden könnten, genau wie wir uns hier wegen der Krokodile sorgen.«
Nach dem Essen meinten sie, falls wir auch nur den Hauch einer Chance haben wollten, eines der weißen Nashörner zu Gesicht zu bekommen, wäre es ausgesprochen hilfreich zu wissen, wo sie zur Zeit steckten. Sie schlugen vor, wir sollten uns morgen von Charles mit der Cessna herumfliegen lassen und am Tag darauf noch mal mit dem Landrover rausfahren und sehen, wie dicht wir an die Nashörner herankämen. Sie riefen Charles über ihr wackliges, altes Funkgerät und arrangierten alles für uns.
Charles fliegt seine Maschine so, wie meine Mutter ihr Auto über die Landstraßen in Dorset fährt. Wenn man nicht wüßte, daß sie das seit Jahren tagtäglich eisern tut, würde man sich bibbernd vor Angst im Fußraum verkriechen, statt glasig zu lächeln und »Warte, warte noch ein Weilchen« zu summen.
Charles ist ein schlanker, etwas angespannter Mann und zudem auch noch schüchtern. Manchmal meint man, ihn mit irgend etwas zutiefst beleidigt zu haben, und merkt einen Augenblick später, daß sein plötzliches Schweigen nur darauf zurückzuführen ist, daß er nicht weiß, was er als nächstes sagen soll und es deshalb einfach aufgegeben hat. Andererseits gibt es vom Flugzeug aus soviel zu sehen, daß er erstens sehr gesprächig und zweitens natürlich kaum zu verstehen ist.
Er mußte es dreimal wiederholen, bevor ich meinen Ohren endlich traute – er sagte, er wolle nur schnell die Eier in dem Sattelstorchnest in der Baumkrone zählen, auf die wir zurasten.
Er ging über dem Baumwipfel abrupt in die Schräglage und zog dann anscheinend die Handbremse, während er sich aus dem Fenster lehnte und die Eier zählte – Das Cockpit war erfüllt von »Warte, warte noch ein Weilchen«-Klängen, als die Maschine langsam seitlich abwärtszutrudeln begann. Charles verzählte sich offenbar zweimal, bevor er mit dem Ergebnis zufrieden war, zog den Kopf daraufhin wieder durch das Fenster nach innen, drehte sich um und fragte, ob es uns gut ginge, blickte nach vorn und riß die Maschine Sekundenbruchteile vor unser aller Tod wieder hoch in die Luft.
Aus der Luft wirkt die Savanne wie über das Land gespannte Straußenhaut. Wir passierten eine kleine Elefantenhorde, die nickend und sich verbeugend über die Ebene stampfte. Charles rief uns über die Schulter zu, im Garamba-Nationalpark versuche man Elefanten zu trainieren, und man habe auf diesem Gebiet die ersten nennenswerten Erfolge seit Hannibals Zeiten erzielt. Afrikanische Elefanten sind intelligent, aber berüchtigt für ihre Untrainierbarkeit, weshalb in den alten Tarzanfilmen Indische Elefanten mit angeklebten großen Ohren eingesetzt wurden. Letztlich will man mit dem Projekt erreichen, daß die Elefanten bei Patrouillen gegen Wilderer und bei Touristensafaris eingesetzt werden können. Auch hier werden also Einnahmen aus dem Tourismus als der einzig sichere Weg angesehen, den Fortbestand der bedrohten Tierwelt in ihrem Lebensraum zu gewährleisten.
Wir drehten immer größere Runden und hielten nach allem Ausschau, was entfernt an ein Nashorn erinnerte. Von hier oben wären sie wesentlich einfacher von einem Termitenhügel zu unterscheiden als vom Boden aus, und sei es auch nur wegen der Geschwindigkeit, mit der sie sich bewegen.
Plötzlich sahen wir eins. Und dann, als wir an einer Baumgruppe vorbeiflogen, sahen wir noch eins.
Tatsächlich waren es sogar zwei; eine Mutter und ihre Tochter, die sich nicht weit von uns entfernt wie trabende Felsbrocken über die Steppe bewegten. Sogar aus ein paar hundert Metern Höhe ist es äußerst beeindruckend, solche Gewichtsmassen in Bewegung zu sehen. Als wir den geraden Pfad kreuzten, auf dem Mutter und Tochter liefen, und vor ihnen tiefer gingen und beidrehten, schien es fast, als seien wir Teil einer dreiteiligen physikalischen Versuchsanordnung, deren einer Bestandteil – das Flugzeug – im Gravitationssog der Nashörner herumpendelte.
Beim nächsten Überfliegen gingen wir noch tiefer, folgten, so dicht über ihnen wie nur irgend möglich, genau ihrer Spur, und diesmal hatte ich das Gefühl, an einem militärischen Manöver teilzunehmen, bei dem wir einer monströsen, über die Ebene scheppernden Kavallerie Deckung aus der Luft geben sollten.
Durch den Lärm im Cockpit riefen wir Charles zu, ob es den Nashörnern nichts ausmache, wenn wir so dicht über Ihnen flögen.
»Nicht halb soviel, wie es euch ausmacht«, sagte er. »Nein, das stört die absolut nicht. Ein Nashorn hat vor nichts wirklich Angst und interessiert sich nur dafür, wie irgendwelche Sachen riechen. Wir fliegen ziemlich oft dicht über sie weg, um sie uns genau ansehen zu können, sie zu identifizieren, zu sehen, was sie so machen, ob sie gesund sind und so weiter. Wir kennen sie alle ganz gut, und wir wüßten, wenn sie wegen irgendwas sauer wären.«
Wieder ging mir schlagartig etwas auf, das sich auf diesen Reisen zu einer echten Binsenweisheit entwickelte, nämlich, daß ein Zoobesuch einen ganz und gar nicht darauf vorbereitete, diese Tiere in freier Wildbahn zu erleben – große Tiere, die sich als unumschränkte Herrscher ihrer ureigenen Welt in einem scheinbar grenzenlosen Raum bewegen.
Oder jedenfalls fast unumschränkt. Das nächste Nashorn, das wir ein paar Meilen weiter entdeckten, hatte gerade eine Auseinandersetzung mit einer Hyäne. Die Hyäne umkreiste ihren Gegner argwöhnisch, während das Nashorn sie kurzsichtig über sein gesenktes Horn hinweg beäugte. Nashörner sehen wirklich nicht besonders viel, und wenn sie irgend etwas unbedingt genau erkennen wollen, begutachten sie es in der Regel zuerst mit dem einen und dann mit dem anderen Auge – geradeaus können sie nämlich nicht sehen, weil ihre Augen an den Seiten des Schädels liegen. Charles wies uns beim Überfliegen des Nashorns daraufhin, daß es schon vorher Ärger mit Hyänen gehabt haben mußte: Die Hälfte seines Schwanzes fehlte.
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