Die Flucht
Der klare Quell, der durch das Tal rann und seinen Abfluß durch Felshöhlungen unterirdisch suchte, murmelte sein eintöniges Lied - der Wind rauschte leise über die Felsen hin und freundlich schien die Sonne vom unbedeckten Himmel in das lauschige Tal hernieder, das die Flüchtlinge barg. - Erst nach Stunden erhob der Knabe das Haupt, schaute sich um und stand dann auf. Sein Auge weilte mit inniger Teilnahme längere Zeit auf den Schläfern, die er dem Tod entrissen hatte, besonders auf dem hübschen Gesicht des Spaniers. Dann nahm er seine Büchse und erkletterte an ihm bekannter Stelle die Felswand nach Norden hin. Sich zwischen Gräsern niederkauernd, durchspähte er die an deren Fuß hinführende Straße, den einzigen Weg auf viele Meilen hin, der Zugang zu dem Tale der Aimaràs gewährte.
Sein Auge gewahrte nichts Lebendes.
Er ging zurück und nahm den Weg nach der Straße, den er am Abend vorher eingeschlagen hatte. Vorsichtig betrat er ihn und forschte auf dem Grunde nach Spuren.
Weder Pferd noch Mensch hatten den Weg seit gestern betreten.
Hufschlag berührte sein feines Ohr - der vom Dorfe herkam. Die Felsen mußten ihm den Herannahenden verborgen haben, als er nach dem Dorfe hinblickte.
Schnell erkletterte er den Fels und verbarg sich hinter Büschen, er machte die Büchse schußbereit und legte sie neben sich. Dann ergriff er einen Stein von der Größe einer starken Mannesfaust.
"Sie senden Botschaft an die Wächter," sagte er leise vor sich hin - "sie darf nicht ankommen oder wir sind verloren."
Er lauschte.
"Es ist nur ein Pferd."
In scharfer Gangart nahte ein Reiter, dem das lange Haar wild um das Haupt flatterte. Techpo erkannte ihn, es war einer der älteren Bewohner des Tales, ein Mensch von finsterer, grausamer Gemütsart.
Auf kaum zehn Schritt jagte der Mann an ihm vorbei. Der Knabe hob den sehnigen Arm und schleuderte den Stein von oben hernieder.
Am Hinterhaupt getroffen, sank der Mann vornüber und fiel dann schwerfällig aus dem Sattel.
Techpo sprang in den Hohlweg, die blitzende Machete in der Hand, und stand neben dem gestürzten Mann, von dessen Hinterhaupt Blut triefte.
Der Flüchtling lauschte, bewegungslos harrend, auf ein Zeichen des wiederkehrenden Bewußtseins. Der Mann war tot.
Einen Augenblick dachte Techpo daran, dem Toten Büchse und Kugelbeutel zu nehmen, doch unterließ er es.
"Sie müssen glauben, ein Stein, der sich vom Berge gelöst hat, habe ihn erschlagen."
Das wohlgeschulte Pferd des Indianers war in einiger Entfernung stehen geblieben. Techpo, dem das Tier bekannt war, lockte es mit Schmeichelworten leicht an sich. Vorsichtig tilgte er seine Fußspuren, schwang sich dann in den Sattel und ritt langsam weiter.
In der nächsten Schlucht zu seiner Rechten bog er ein.
Als er auf Felsboden gelangt war, stieg er ab und leitete das Tier über rauhe Pfade zu der Höhle und durch diese in das Tal, in dem er die Schläfer zurückgelassen hatte.
Der Knabe hob den Arm und schleuderte den Stein.
Er fand seine Gefährten munter. Verwundert blickten diese auf das indianisch gezäumte Pferd.
Techpo erklärte, wie er in dessen Besitz gekommen.
Die Hörer staunten über die stoische Ruhe, mit der er den aufregenden Vorfall berichtete.
"Wir können uns glücklich schätzen," sagte er dann, "die Botschaft an die Wächter von unserer Flucht ist zunächst verhindert. Hoffentlich gelingt es, ihre Augen blind zu machen, denn sie behüten den einzigen Pfad, der nach Osten hin einem Pferd den Durchgang erlaubt." Er zündete dann mit Hilfe von Stahl und Stein und trockenem Reisig Feuer an und bereitete aus Vorräten, die er für seine geplante Flucht sorgfältig in der Höhle aufgespeichert hielt, aus gedörrtem Fleisch und Maismehl das Frühstück in einem irdenen Topfe, den er mit sich geführt hatte. Es mundete den Flüchtlingen, die ausgeruht hatten, vortrefflich. Der junge Spanier, dem der düstere Ernst des über seine Jahre kräftigen Knaben aufgefallen war, der so wenig zu seinen jugendlichen Zügen paßte, wie ihm dessen Energie und Entschlossenheit Bewunderung abnötigten, fragte nach beendetem Mahle, das schweigend verzehrt ward: "Wie nenne ich dich, mein teurer Retter?"
"Nenne mich Alonzo, so nannten mich einst die Meinen."
"Weilst du schon lange unter diesen Wilden?"
Die dunklen Augen des Knaben blickten traurig vor sich hin, dann erwiderte er: "Ja, lange, viele Jahre, wie viel weiß ich nicht."
"Doch du bist noch so jung."
"Ja, ich glaube."
"Wie bist du unter diese Wilden gekommen? Hat man dich geraubt?"
Mit einer eisigen Starrheit in den Zügen sagte Alonzo: "Sie haben die Meinen erschlagen und mich davongeführt." Nicht ein Zug bewegte sich in seinem Gesicht bei diesen Worten.
"Welch ein Schmerz für dich! Erschlagen?"
"Ja, Vater, Mutter, Geschwister - alle."
Entsetzlich wie die Mitteilung, die eine Welt von Jammer barg, war die stoische, finstere Ruhe, mit der sie gemacht wurde.
Don Fernando war davon so erschüttert, daß er erst nach einiger Zeit äußerte: "Aber du hast noch Angehörige, die sich nach dir sehnen?"
"Ich weiß es nicht, ich sehne mich nur fort von diesen Mördern." Der Ausdruck seines Gesichtes veränderte sich plötzlich. "Aber sie sollen es büßen, ich bin stark und werde stärker. Vater, Mutter haben sie mir getötet und meine Seele langsam in diesen Jahren gemordet, daß ich nicht mehr denken, kaum noch beten kann, sie sollen es büßen."
Er schüttelte die Faust nach dem Dorfe hin. Dieser Ausdruck des Zornes war umso überraschender, als er in schroffem Gegensatz zu der stoischen Ruhe stand, die der Knabe gleich den Eingeborenen sonst zur Schau trug.
Alonzos Züge nahmen ihren gewöhnlichen Ausdruck wieder an und fast weich sagte er: "Ich fühle mich glücklich, daß ich geschützt blieb vor völliger Umnachtung des Hauptes."
"Du wirst mit mir kommen, Don Alonzo, das Haus meines Vaters wird dir ein Asyl gewähren und fortan deine Heimat sein, er ist reich und mächtig."
"Ein gütiges Geschick wird dich zu ihm führen, aber der Weg ist lang durch die Berge zur Ebene hinab und die Aimaràs sind flink in der Verfolgung."
"Oh" - sagte gutgelaunt Don Fernando, "ich bin froh, daß ich durch deine Hilfe diesen unheimlichen Priestern entgangen bin, die mich anstarrten wie ein wildes Tier. Hatten sie wirklich die Absicht, mich ihren Götzen zu opfern?"
"Zweifle nicht daran, sie lechzten nach deinem Blute."
"Ich wundere mich, daß sie dich am Leben ließen."
"Sie warteten wohl, bis ich zum Manne erwachsen war, ehe sie mich opferten."
"Nun bin ich wie durch ein Wunder dem Messer dieser Baalspriester entronnen. Wird die Flucht aus den Bergen auch gelingen? Lebendig," setzte er entschlossen hinzu, "sollen sie mich nicht haben. Erreichen sie uns, wollen wir kämpfen bis zum letzten Augenblick."
"Ja," sagte der Mestize, "dann kämpfen wir, auch ich ziehe den Tod im Kampfe dem auf dem Opferaltare vor."
"Ich kenne den Weg, der nach den Llanos führt, nur noch eine Strecke weit," sagte Alonzo.
"Wir werden ihn weiter verfolgen, und tiefer hinab kenne ich die Berge und Schluchten, ich bin ein Montanero (Bergbewohner) ."
"Doch du stammst aus den Llanos, Sennor, wenn ich dich recht verstand?" fragte Alonzo den Kreolen.
"Nicht ganz, ich entstamme dem Norden des Staates, da wo die Ostkordilleren sich erheben, doch habe ich freilich einen Teil meines Lebens in den Llanos zugebracht."
"Wie bist du in diese Berge gekommen?"
"Jägerlust und Freude am Umherstreifen trieb mich in das Gebirge."
"Doch warst du allein?"
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